Samstag, 4. Dezember 2010

PARADIESGESCHÄDIGT. "DAS ZIMMER" von Andreas Maier

von Morel


Jesus died for somebody’s sins but not for mine.

Was immer man vom Papst und seinen in Kathedralenzwielicht allerlei Halbdurchsichtiges treibenden Schäfchen halten soll - einige unserer liebsten Kunstwerke wären ohne den Katholizismus nicht auf die Welt gekommen. Wie die verschwiegenen Kinder der Priester, singen gerade die unzüchtigen Lieder das Lob des Herrn. Und so wie die von den Tugendwächtern Amerikas verfolgten Stricher des ehemaligen Messdieners Robert Mapplethorpes eigentlich gefallene Engel sind und die Punktiraden Patti Smiths ihren Ursprung in der kindlichen Erfahrung der Heiligen Messe haben, können umgekehrt die Hasstiraden der Tea-Party-Prediger ja nur des Teufels sein. Verkehrte Welt eben.

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Eine Umkehrung der Heilsgeschichte schreibt Andreas Maiers neuer Roman Das Zimmer, der von Onkel J. handelt. Er sei „der einzige Mensch ohne Schuld, den ich je kennengelernt habe“, so der Erzähler zu Beginn des Romans. „Eine Figur am Ausgang des Paradies, noch mit einem Bein darin.“ Denn dieser Onkel musste mit der Zange in die Welt geholt werden und trug davon eine Hemmung fürs Leben davon. Als hätte er das Paradies nicht vergessen können. Was ihm, da er in die Welt der Wetterau und des Nationalsozialismus hineingeboren wurde, nicht zum Guten ausschlug. Einen Außenseiter, der nur geduldet wurde, beschreibt Maier, der in der Schule von der älteren Schwester davor gerettet werden musste, tot geprügelt zu werden. Den Maschinen und Waffen faszinierten, ohne dass er eine Maschine verstehen, eine Waffe bedienen konnte. In Phantasiewelten, in einem Kellergeschoß des Hauses seiner Mutter lebend, in einem „Höllenhort“, wie der Erzähler, sein Neffe bemerkt (und das Meiste in diesem Buch sind Imaginationen des Neffen, wenige Rezensionen haben das hervorgehoben).

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Dieser Onkel, aus dem Paradies vertrieben, aber mit einem Bein noch darin, liebt die Paradieserzählungen. Die Bergsteigerfilme mit Luis Trenker, die gut katholische „Prachtentfaltung“ von Polizeiuniformen und Zapfenstreichen. Aber er gehört eben nicht dazu. Nicht zur Wehrmacht, nicht zur Polizei, nicht zu den Jagdmeuten, deren Opfer er allenfalls wurde. Erst als er eine Stelle als Hilfsarbeiter am Frankfurter Bahnhof antritt, erfüllt sich seine Sehnsucht Teil eines Ganzen zu werden. Dort beschreibt ihn Maier – und auch das ist wieder pure Imagination – im Treppenhaus eines Puffs in der Kaiserstraße stehend, auf der Schwelle zu einem ersehnten Paradies, aber mit den Gedanken an die Mutter in Bad Nauheim.

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Dieser Roman ist keine Erzählung sondern eine Abfolge von imaginierten Kreuzwegstationen, die aber mit der Kreuzigung beginnen und auf dem Weg durch einen dunklen Wald zu einem ersehnten Paradies, dem Stammtisch der Jäger im Gasthaus Winterstein enden. Viele Szenen könnten in einer anderen Konstellation aus der Familie Hesselbach stammen. Maier aber gelingt es, den Leser niemals das Dunkle und Gemeine dieser Welt vergessen zu lassen. Sein Versuch die in eine „Ortsumgehungsstraße verwandelte“ Wetterau als „ganze Welt“ zu beschreiben erinnert, erinnert weniger an die Weltvernichtungsakrobatik Thomas Bernhards (mit dem er zu Beginn seiner Karriere verglichen wurde), sondern an die Gedächtniskunst Marcel Prousts. Wie Proust lässt er den Leser nie vergessen, dass wir nichts über den Anderen wissen und uns nur bruchstückhaft erinnern. Wenn Onkel J. und sein Zimmer dem Leser so deutlich vor Augen treten, liegt dies allein daran, dass dieses Buch, was beiläufig einmal erwähnt wird, in diesem Zimmer geschrieben wurde, von einem Erzähler, der die Wege des Onkels in späteren Jahren oft nachgegangen ist. Wie es im Darkroom dieses Zimmer tatsächlich aussieht, ist so unzugänglich wie das Allerheiligste. Aber der Schriftsteller als alltagsunfähiger, paradiesgeschädigter Außenseiter kann es sich vorstellen. Das ist die Rechtfertigung dafür, dass hier als erlebt geschildert wird, was vielleicht nie geschehen ist.

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Die „Familiensaga“, die uns auf dem Klappentext des Buches versprochen wird, beginnt also mit einem Opfer. Und die Alltagswelt des Jahres 1969, in dem der spätere Sünder Robert Mapplethorpe seiner Muse (und sie ihrer Inspiration) begegnete, wird von Maier mit hoher Komik als verfallene, untergehende geschildert. Ein viel versprechender Anfang.

1 Kommentar:

  1. @Morel Unter uns Sündern hat auch der Katholizismus sein Plätzchen, alright! (CU in Rome.)

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