Sonntag, 23. Januar 2011

"IST NÜCHTERNHEIT EINE BILLIGE RICHTERIN FÜR DEN TRINKER?"




KUNKELIANA. DAS WIRKLICH UNMÖGLICHE ROMAN-PROJEKT GEORG CHRISTOPH LICHTENBERGS


Im Dezember 1768 verstarb in Göttingen der Trödler und Antiquar Jonas Kunkel, ein Trinker, der mit seinen im Suff ausgesprochenen Anmaßungen, Drohungen und Beschimpfungen nicht wenig zum Amüsement der Göttinger beigetragen hatte. Er wurde vom dort ansässigen Professor der Physik, Georg Christoph Lichtenberg, schmerzlich vermisst. Dem Andenken des Kunkels sind ab 1769 eine Reihe von Eintragungen in den „Sudelbüchern“, die Lichtenberg ein Leben lang heimlich füllte, gewidmet; Skizzen zu einem nie verwirklichten Romanprojekt.

Lichtenberg wollte, so scheint es, eine Biographie des Kunkels schreiben, die nicht chronologisch, sondern von ihrem Ende her erzählt werden sollte (Sie sehen, wo ich die Konzeption meines Projekts „Melusine featuring Armgard“ geklaut habe): „Kunkels Leben muss von hinten her erzählt werden.“ Die Fragmente dieses Romansvorhabens, die sich auf die Sudelbücher verteilen, erzeugen den Eindruck eines multiperspektivischen Montage-Verfahrens: Dokumente, Reden, Erzählpassagen, Interviews. Tatsächlich nehmen einige Passagen Techniken des Films vorweg:

Beim Gunkel zu Göttingen mit dem hohen Absatz könnte die Szene eine Post-Kutsche sein, nur vergrößert. Das Parterre und die Loge könnte man als Korb hinten ansehen. Um die Bewegung vorzustellen müssten die Landschaften bewegt werden. Das Rasseln der Steine auszudrucken überlasse ich den Herrn Decorateurs oder man könnte auch eine Olivetische Elektrisier-Maschine nehmen, Leute könnten ein- und aussteigen. Dann plötzlich eine Szene auf dem Blocksberg, und eine auf einem Schornstein.“

Alles da: Schnitt, Montage, Zoom, asynchrone Tonspur. Doch Lichtenberg wollte noch in anderer Hinsicht die Romankonventionen sprengen. Nicht nur sollte das Leben des Kunkel in „Rückblenden“ und montiert erzählt werden, sondern auch im Konjunktiv. Der Kunkel sollte nicht erscheinen, wie er war, sondern wie er hätte sein können.

Die längsten Fragmente „Zur Biographie Kunkel Gehöriges“ und „Dem Andenken des sel. Kunkel gewidmet“ sind als Reden konzipiert, die ein fiktiver Autor einem Publikum vorträgt, das er über die Bedeutsamkeit des Kunkelschen Lebens belehren will. Kunkel, der Querulant und Trunkenbold, verkündet der Redner, sei völlig unverdient nur zu schnell in Vergessenheit geraten. Diesem „Machtanspruch“ will der Redner sich widersetzen und ihn aus dem Vergessen retten. Durch seine Tätigkeit als Bücherverkäufer sei Kunkel mit allen Schichten der Göttinger Gesellschaft in Berührung gekommen und habe sich eine Art „Plattphilosophisch“ angeeignet, das spezifische Kunkelsche Wahrheiten zu Tage befördert habe. Der Erzähler findet unter den Papieren aus Kunkels „Nachlass“ eine Art Testament an dessen Sohn. Darin hofft der Kunkel, der Sohn werde, gleich seinem Vater, seine Nahrung durch „belle lettres“ finden. Er wolle dem Sohn „einige Vorschriften, die ich aus vielfältiger Erfahrung wahr befunden habe, hiermit mitteilen“, etwa: Bibeln seien hart zu verkaufen, Lateinisches dagegen zu jeder Zeit, Französisches jedoch nur im Krieg, griechische wie auch theologische Bücher solle der Sohn nur mit Vorsicht ins Sortiment aufnehmen, „denn das Griechische ist eine schwere Sprache, wie man schon aus den sonderbaren Buchstaben sattsam ersehen kann.“

Lichtenberg konstruiert einen detektivisch vorgehenden Autor, der die Hinterlassenschaft des Toten sichert:

Der Geschichtsschreiber des Gunkels braucht nicht Bibliotheken oder Archiven zu durchsuchen, allein er muss dafür die Materialien dazu aus den Denkmälern zusammenlesen, die schwerer zu behandeln sind, die zu lesen eine Kunst erfordert. Etliche habe ich gebraucht, der eine ist ein Perüquenmacher, von welchem Gunkel einmal Schläge bekommen, und der andere ein Bäcker, in dessen Hause er öfter welche austeilte. Der Perüquenmacher ist sehr defekt, dabei einförmig und enthält bloß alltägliche Sachen, der Bäcker hingegen liest sich gut, erzählt florissant, scheint aber parteiisch zu sein.“

Es bleibt mir“, schreibt der Erzähler, „nur ein Weg, mich meinem Kunkel mit Anstand zu nähern, das ist zu zeigen, dass dasjenige, was er tat, und was jedermann weiß, dass er getan hat, auch einer anderen Erklärung fähig sei, und dass mehr die einmal durch ein Ohngefähr in den Strom gebrachte Laune eines flatterhaften Publikums, als eine absolute Possierlichkeit des Mannes allen seinen Handlungen dieses zweifelhafte Licht erteilt habe.“ Kunkel sei, lässt der Autor wissen, kein Ungebildeter, Eigensinniger, Streitsüchtiger, sondern ein Bücherkenner, standhafter Bürger und mesaillierter Ehemann gewesen. Die Trunksucht wird auf ein Missgeschick zurückgeführt, dass Kunkel – der einst Glasverkäufer war – hatte: Er brach sich das Bein und hinkte fortan. Dieser Umstand habe ihm „Leib und Seele“ verändert. Daraus ergibt sich die Spekulation, wer und wie Kunkel hätte sein können. Er habe „unsterblich werden können, wenn er noch vier Gaben gehabt hätte, ein großer Mann zu werden: Modernen Witz, Latein, Kühnheit und einen Verleger.“ Auch sei Kunkel vielleicht gar kein „Trinker“ gewesen: „Wie wenn Kunkels Frau zuwenig getrunken hätte? Ist Nüchternheit eine billige Richterin für den Trinker?

Was kann Kunkel dafür, dass dieser Trieb zur Erhöhung sich bei ihm in einem Jahrhundert regte, da er in dem meisten Teile der Menschheit noch etwas mehr schlief. Dass wir einen Trinker liederlich nennen, und ihn aus aller honetten Compagnie ausgeschlossen wissen wollen, scheint mir mit dem lächerlichen Verfahren unserer gutherzigen Voreltern, die Hexen zu verbrennen, keine geringe Ähnlichkeit zu haben...“

Lichtenbergs Notizen und Fragmente zur Kunkeliana enden um 1775. Ein Roman-Projekt offenbar, das konzipiert wurde, in einem Jahrhundert, in dem diese Art zu erzählen „noch etwas mehr schlief“. Erst in der Moderne, nach dem Erscheinen des bewegten Bildes und der Elektrisierung des Alltags, werden solche Romane möglich.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen