Mittwoch, 9. Februar 2011

NAMENLOS (1987)

An einem Sommernachmittag im Jahr 1987 saß mein Vater, als ich heimkam, auf der Treppe vor meiner Studentenbude. Sein Anblick erschreckte mich, denn es gehörte nicht zu seinen Gewohnheiten, unangemeldet aufzutauchen. Er stand auf und legte seine Hände auf den Lenker meines Fahrrades. „Die Oma ist gestorben.“ Ich lehnte mich über das Rad und drückte den Kopf für einen Moment an seine Brust. Dann schob ich das Rad in den Verschlag, während mein Vater mit dem Schlüssel, den ich ihm gegeben hatte, aufschloss. Er ließ sich in den breiten Ledersessel sinken, den ich aus einer Sperrmüllladung am Straßenrand gezogen hatte. „Willst du ´n Tee?“ Ich warf meine Jacke aufs Bett und schaltete den Wasserkocher ein. „Warst du bei ihr?“ „Nein, der Opa hat angerufen." „Ging es ihr schlechter?“ Die Oma hatte seit zwei Wochen im Krankenhaus gelegen. Sie war 85 Jahre alt, eine Grippe hatte sie geschwächt und der Opa schaffte es nicht, sie daheim zu pflegen. „Glaub ich nicht. Sie soll ganz friedlich eingeschlafen sein.“ Das Wasser kochte und ich goss es direkt in die Tassen, in die ich Teebeutel gehängt hatte. Mit den Tassen ging ich hinüber zu meinem Vater und setzte mich auf die Lehne des Sessels. Ich reichte ihm die seine. „Ich glaube, sie war ganz zufrieden.“ Wir schwiegen aneinander gelehnt. Er nahm einen Schluck. „Kommst du am Freitag zur Beerdigung heim?“„Ja.“ Er schaute auf seine Uhr. „Ich muss los.“ Wir drückten uns noch einmal. „Hab dich lieb.“, murmelte ich an seinem Ohr. „Hexchen“, flüsterte er.

Ich nahm die Daunendecke vom Bett und kuschelte mich in den Sessel. Die Oma ist tot. Sie hatte, dachte ich, einen schwachen Eindruck hinterlassen. Selbst ihr Ableben war sanft, kein ekliges Dahinsiechen, kein abruptes Umfallen. Sie hatte es leicht gemacht, wieder einmal, wie alle immer über sie gesagt hatten, dass sie es sich leicht machte und bequem war. Dort auf dem Dorf, wohin es sie nach dem Krieg verschlagen hatte, wurde auf eine wie sie mit Stielaugen geschaut. Sie putzte sich nicht krumm; sie kremte ihre Hände, statt sich Schwielen zu kehren; sie ließ sich die Haare ondulieren, statt einen straffen Knoten zu binden. Bei der Oma gab es immer Süßes und sie war nicht geizig damit. Die Oma war richtig fett. Alle ihre Enkelinnen haben bis heute den Spruch meiner Tante im Ohr: „Pass bloß auf, dass du nicht nach der Oma kommst.“ So schauen wir nach unseren Hüften und schieben das zweite Stück Sahnetorte weg, denn wir haben Angst, nach der Oma zu kommen und wie sie auf der Treppe zu schnaufen. Doch ihr schien es nie was auszumachen. Manchmal blätterte sie mit mir in einem alten Fotoalbum, darin war das Sepiabild einer schönen dunkelhaarigen Frau im braunen Seidenkleid mit heller Schleife. Das, sagte sie, war ich, als ich jung war. Meinem Spiegelbild abends im Bad machte ich große Augen und einen Schmollmund, um zu sehen, ob ich vielleicht doch nach der Oma kam, wie sie auf diesem Bild gewesen war.

Ich erinnerte mich an den Duft von TOSCA, das Parfüm, das der Opa ihr immer zu Weihnachten schenkte. Wenn ich in den Ferien bei den Großeltern wohnte, kam sie in einem gigantischen, gesteppten und wattierten Morgenrock morgens zu mir herüber, um zu schauen, ob ich noch schlief.  Immer wenn sie sich zum mir aufs Bett setzte, hatte ich Angst, dass es zusammenbrechen könnte und wenn sie schnaufend aufstand, fürchtete ich jedes Mal, sie könnte es vielleicht nicht mehr hoch schaffen. Doch trotz ihrer Fülle bewegte sie sich im Morgenrock leise und schwebend und ich hörte sie kein einziges Mal stampfen, während die Schritte des schlanken Opas durchs Treppenhaus donnerten. „Der Franz geht ins Geschäft“, sagte sie. Wenn die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, hatten wir Ruhe. Wir lasen Illustrierte im Bett und aßen dazu Pralinen. Zwischendurch standen wir auf, um den Kanarienvogel zu füttern. Später am Tag, nachdem wir uns schön gemacht hatten (die Oma träufelte ein paar Tropfen TOSCA hinter meine Ohren), gingen wir spazieren oder zum Friseur oder „einholen“, wie sie sagte. Dann spielten wir Karten. Selten schauten wir auch einmal fern, wenn eine alte Romanze im Nachmittagsprogramm gezeigt wurde. Zu Mittag gab es, weil ich es mir wünschte, fast immer Hähnchen mit Pommes aus der Friteuse. Erst am späten Nachmittag musste sie sich ein wenig sputen, um das Abendbrot für den Opa zu richten. Sobald er daheim war, folgte alles festen Regeln: Um sechs wurde zu Abend gegessen, um acht schaute er Tagesschau. Dann spielte er noch eine Runde Rommée mit uns, bevor es Zeit war zu Bett zu gehen. Die Oma und ich lasen, wenn er schon schlief, in den Zeitschriften, die sie heimlich gekauft hatte.

Die Erinnerung an sie fühlte sich warm und rosig an; sie roch gut, wenn auch ein bisschen fettig und verstaubt. Mir war nicht nach Weinen zumute, während ich in die Decke gekuschelt, den rosengeblümten Morgenmantel an meiner Wange fühlte. Die Tränen kamen ganz unerwartet, als ich Stunden später unter der Dusche stand und dachte: „Wie heißt eigentlich die Oma?“ Ich wusste es nicht. Mein Vater und seine Brüder sagten „Mutti“, wenn sie mit ihr sprachen und „die Oma“, wenn sie von ihr redeten. Auch der Opa hatte stets „Mutti“ gesagt. Das traf mich härter als die Nachricht von ihrem Tod: „Ich weiß nicht, wie die Oma heißt.“

(Tatsächlich hörte ich ihren Namen bewusst zum ersten Mal bei ihrer Beerdigung. Sie hieß Hilde.)

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