Montag, 11. April 2011

WARUM TSCHICK EIN SO GUTER ROMAN IST

VON MOREL

Vor einer Woche hat sich ein Leitartikel in der F.A.Z. über ein sehr gutes Buch beklagt. Den Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf, der von zwei Jungen auf Abenteuerreise in einem gestohlenen Lada erzählt, läse nicht nur seine primäre Zielgruppe, die Jugendlichen, von denen er ja handelt, sondern auch deren Eltern mit Vergnügen, die in diesem Buch ausgesprochen schlecht wegkämen. So auch in diesem Haushalt, wo das Buch erst zu Weihnachten verschenkt und dann an einem der ersten warmen Frühlingstage des Jahres vom Verschenkenden in einem Rutsch durchgelesen wurde. Der Leitartikler der F.A.Z. wünscht sich Bücher nur für Jugendliche, dann wären es aber wohl keine Romane: denn der Roman ermöglicht uns seit dem 19. Jahrhundert all das zu erleben, was wir noch nicht oder nicht mehr sind beziehungsweise sowieso nie sein werden, aber ganz bestimmt nicht das, was wir sind. So ein Roman ist Tschick. Sein Realismus ist, wie jeder literarische, Sur-Realismus.

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Tschick ist einerseits ein Schulroman – er beginnt und endet in einem ganz normalen Gymnasium – und dazwischen andererseits eine klassische Abenteuergeschichte, als Film wäre das natürlich ein Road-Movie. Herrndorf baut als sehr gewitzter Erzähler zu Beginn des Buches zwei Episoden ein, die den Roman, seine federleichte Konstruktion, im Kleinen abbilden. Maik Klingenberg soll mit den Worten „Wasser“, „Rettung“ und „Gott“ eine sogenannte Reizwortgeschichte erzählen. Er schreibt auf, was er zu Hause mit seiner alkoholkranken Mutter und dem launischen Vater erlebt, im Grunde eine Horrorgeschichte, die er aber ausgesprochen komisch findet. Besonders, dass in der Entziehungsklinik ein alter Pappkarton an der Decke „Gott“ symbolisiert. „Die Klasse ist beim Vorlesen durchgedreht vor Begeisterung.“ Der Lehrer dagegen entrüstet sich, dieser Aufsatz sei das „Widerwärtigste“ was ihm in „fünfzehn Jahren Schuldienst“ untergekommen sei. Während der wohlstandsverwahrloste Maik seitdem Psycho heißt, lässt sich Tschick, der Russe, vermutlich mit halbkriminellem Familienhintergrund, von seiner Außenseiterrolle in der Klasse nicht aus der Ruhe bringen. Auch er bekommt die Gelegenheit, seine literarischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, als er Brechts berühmte Parabel von Herrn K., der erbleicht, weil er sich nicht verändert hat, interpretieren soll. Die Transformationsleistung vom knappen Wortlaut zum moralischen Sinn misslingt, er schmückt die zu karge Erzählung aus: „Ohne viel Übertreibung kann man sagen, dass K ein Mann ist, der das Licht der Öffentlichkeit scheut. Warum versteckt er sich? Mit anderen dunklen Gestalten zusammen hat er eine Verbrecherorganisation gegründet, für die die Genfer Konvention nur einen traurigen Witz darstellt.“ Auch diese unmoralische Phantasie von einer misslungenen Gesichtsoperation kann nicht benotet werden, denn die richtige Lösung steht schon immer „bei Google“.

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Der Roman Tschick aber filtert den halbverstandenen Horror der Erwachsenenwelt durch eine Kunstsprache, die das Bewusstsein eines 14jährigen abbildet, der nicht alles versteht, was er uns erzählt. Und der Roman transformiert die Parabel der zwei Helden, die zu einer Abenteuerfahrt aufbrechen, in eine moralfreie, wenn auch nicht sinnlose Phantasie. Denn eigentlich steht Tschick eher in der Tradition des Märchens oder der Sage. Wie die Helden selber in einem ruhigen Moment auf ihrer turbulenten und immer wieder hochkomischen Fahrt durch ein abseits liegendes Deutschland bemerken: Das ist nicht die Welt, die sie von ihren Eltern und aus „Spiegel TV“ kennen. „Seit ich klein war, hatte mir mein Vater beigebracht, dass die Welt schlecht ist.“ Sie dagegen begegnen vielen seltsamen Menschen, aber keinen wirklich gefährlichen. Die Übertretung wird hier einmal in der Literatur nicht bestraft, sondern belohnt. Deshalb ist Tschick ein so gelungener wie seltener Roman. Allen Romanen ähnlich entführt er uns aus dem Vertrauten. „We’re not in Kansas anymore“, könnten Maik und Tschick mehr als einmal murmeln, wie Judy Garland im Wizard of Oz, wenn plötzlich alles farbig wird. Durch das farbige Kaleidoskop der Idylle wirft der Roman aber einen einzigartig bitteren Blick zurück auf die auf Zeit zurückgelassene Welt in Schwarz-Weiß. 

Wolfgang Herrndorf: Tschick, (Rowohlt) € 16,95

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