Variante für Gleisbauarbeiten*
Ein Beitrag von Aléa Torik
Auf einem Hinterhof steht eine Kiste. Es könnte auch ein Sarg sein. Man weiß nicht, was drin ist. Vielleicht eine weibliche Leiche. Eine männliche Leiche wird es nicht sein. Da müsste man sich fragen, wie er gestorben ist. Man fragt sich, wer ihn und auf welche Weise umgebracht hat. Vor allem fragt man sich, warum die Leiche in einem Sarg im Hinterhof ausgestellt wird. Eigentlich müsste sie im Keller einbetoniert werden. Bei einer weiblichen Leiche fragt man sich das nicht. Man sieht sie durch den Sargdeckel hindurch auf rotem Samt liegen. Mucksmäuschenstill und mausetot.
Die Müllmänner kommen und nehmen sie mit. Sie binden den Sarg oben auf dem Dach des Müllautos fest. Das sieht nicht schön aus. So packen sie die Leiche aus und legen sie auf den Rücksitz des Müllautos. Aber dort macht sie die Müllmänner nervös. Tot oder nicht tot, sie lag nackt in dem Sarg und nackt liegt sie nun auf dem Rücksitz. Also halten sie vor einem Supermarkt, kaufen eine Vorratspackung Zellophan, wickeln sie in die transparente Folie ein und stellen sie an den Straßenrand. Gegen Abend kommt ein distinguierter älterer Herr, schaut sie sich genau an und findet sie ganz ungeheuerlich schön. Er nimmt sie mit nach Hause, legt sie in sein Bett und versucht, Liebe mit ihr zu machen. Seine Versuche bleiben erfolglos, was allerdings mehr seinen eigenen körperlichen Unzulänglichkeiten zuzuschreiben ist als den ihren. Am nächsten Tag, bitter enttäuscht, bringt er sie wieder fort. Er stellt sie an eine Kreuzung, wo sie recht bald einen interessierten Abnehmer findet. Auch diesem zeigt sie die kalte Schulter. Auch er bringt sie wieder fort. Er stellt sie in das Schaufenster eines großen Bekleidungshauses, wo sie dafür sorgt, dass Zellophan die gesamte Frühjahrskollektion bestimmt. Monatelang gibt es nur noch transparente Kleidung zu kaufen.
Dann bricht jemand in der Nacht ins Kaufhaus ein. Er nimmt sie in den Arm. Er liegt ihr zu Füßen. Er betet sie an. Die anrückende Polizei nimmt die beiden fest. Sie kommt ins Frauengefängnis, die Presse bekommt Wind von der Sache, sie wird wieder freigelassen, das Ganze ist der Gefängnisdirektion peinlich, man will sie loswerden und stellt sie an eine Straßenecke, wo an einem windigen Tag ein paar Kinder vorbeikommen und mit dem Finger auf sie zeigen. Es kommt ein Künstler, der sie anmalt, um die Brüste herum und die Schultern. Es kommt einer, der sie küsst. Es kommt einer, der Lieder für sie singt. Einer weint, einer lächelt, einer erzählt ihr eine Geschichte, weil er vermutet, dass sie eine hören möchte. Und dann erzählt er ihr noch eine zweite. Er erzählt ihr, dass eines Tages einer kommen wird, der sie für sich allein möchte.
Eines Tages kommt einer, der sie für sich allein möchte. Er sucht nach einer Möglichkeit, sie vor den anderen zu verstecken. Er findet einen Ort, wo man seine Habseligkeiten unterstellen kann. Er mietet eine Parzelle, 11 Quadratmeter, er bekommt einen Schlüssel. Er kann sie sich anschauen, wann immer er will. Abends um zehn muss er wieder gehen. „Keine Lebewesen“ steht im Vertrag. Er kauft in den kommenden Wochen eine Wohnungseinrichtung zusammen. Er kauft ihr Kleider und Schuhe und Parfum. Er kommt jeden Tag vorbei und schaut sie an. Eines Tages beschließt er, über Nacht zu bleiben. Er beschließt, sein bisherigen Leben aufzugeben und in die angemietete Parzelle zu ziehen. Er verkauft und verschenkt seinen Besitz. Er kündigt seinen Job. Er verabschiedet sich von seinen Freunden und Bekannten. Er verlängert den Vertrag für die Parzelle. Er macht sein Testament. Zuletzt kauft eine Vorratspackung Zellophan. Eigentlich müsste er sich im Keller einbetonieren lassen. Aber da würde man sich fragen, wie er gestorben war. Man würde sich fragen, wer ihn umgebracht hat und auf welche Weise. Das empfindet er als unangemessen. Geradezu würdelos.
Aléa Torik, August 2011
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* Diese Erzählung ist eine Variation zu "Meine weibliche Leiche" (erschienen am 01. August im Blog von Aléa Torik). Die Abwandlungen beziehen sich auf die Aufforderung, sich am Wettbewerb zu "Mein Platz" zu beteiligen. Vielen Dank für diesen Beitrag, Alea Torik! Torik möchte jedoch ausdrücklich nicht an einem Wettbewerb - gleich welcher - Art teilnehmen, weil sie nicht mal ein Buch gewinnen wolle, da "hier noch so viel liegt, das ich lesen will."
Bereits erschienen: Guido Rohms "Alles was ich bin".
Wir warten nun noch gespannt auf den angekündigten Beitrag von Bersarin und fordern alle anderen Leser:Innen noch einmal auf, sich schreibend in die blauen Kammern einzulassen. Wir freuen uns auf weitere Erzählungen.
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