Fontanes „Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes“ habe ich als junges Mädchen zum ersten Mal gelesen. Sie löste Faszination und Abwehr aus. Den Fontaneschen Ton, den ich stets eben nicht als „realistischen“ Nachrichtensprecher, sondern immer als Paetsch´schen Märchen-Onkel im Ohr hatte, liebte ich. Aber was erzählte er da? Uwe Johnson lässt es in den fünziger Jahren in einer DDR-Schulklasse den Schüler Saitschik knapp und treffend zusammenfassen: „Das is so ungefähr hunnertfünzig Johr her. Da hat ein Rittmeister eine Freundin, die will er vleich heiroden. Mit eins verkuckt er sich in ihre Tochter, zwanzig Johr jünger, aber weil die Leute Witze machen über die Blatternarben in ihr Gesicht, will er sich vor den Folgen drücken. Der König befiehlt ihm die Heirat, macht er denn auch; aber erschießt sich nach dem Mittagessen. Den Namen und das Kind, das lässt er ihr.“ Saitschik befindet: „Das´ man ne olle Kamelle...wer schwängert, der soll auch schwören.“ Ich hätte dem Recht gegeben, dem Saitschik, aber den vierten Band von Johnsons „Jahrestagen“ kannte ich noch nicht. Doch gab es einen Unterschied: Saitschik war ein Kerl. Meine Perspektive war eine andere. Was eine männliche Ehre sei: Gerade stehen für seine Handlungen oder das rechte Ansehen beim eigenen Stand, das war mir herzlich egal. Dagegen beschämte und verletzte mich, wie die Bindung an eine unschöne Frau ganz offenbar für einen Mann eine so grässliche Aussicht sein konnte, dass er sich lieber erschoss.
Vernarbung
Ich identifizierte mich bei dieser ersten Lektüre im Alter von etwa 17 Jahren stark mit Victoire von Carayon und interessierte mich wenig bis gar nicht für die historischen Hintergründe oder die Erzählweise Fontanes. Neben ihrer Mutter „der schönen Frau“ des Hauses bleibt Victoire auf den ersten Seiten blass. Sie ist am Teetisch beschäftigt, während die schöne Mama geistreich mit den Herren plaudert. Erst als das Gespräch auf „die Polen“ kommt, setzt Victoire sich dazu: „Sie müssen wissen,..., dass ich die Polen liebe, sogar de tout mon coeur.“ Im Lichtschein der Lampe, in den sie sich beugt, wird für alle Anwesenden sichtbar, wie die Krankheit ihre Züge versehrt hat. Fontane führt in diesen wenigen Zeilen Victoire als eine junge Frau ein, die ihre äußerliche Entstellung zur Zurückhaltung anhält, die aber diese überwinden kann, wenn ihr Herz berührt, ihre Leidenschaft geweckt ist. Am Ende des Abends führt Schach, der ihrer Mutter den Hof macht, sie galant ans Klavier und sie singt, während er sie begleitet: „Die Blüte, sie schläft so leis und lind...“ Die romantischen Verse dieses Liedes finden nicht den Beifall der preußischen Abendgesellschaft, wohl aber Victoires Gesang. Sie ist nicht schön, aber sie hat Schönheit, ganz offenbar. Da war Hoffnung, las ich als junges Mädchen, und also - weiter.
Ritterlichkeit
Victoire, die so eng und zärtlich mit ihrer Mutter verbunden ist, mag deren Verehrer Schach, doch sie durchschaut ihn auch in seiner Eitelkeit und lacht über seinen puppenhaft ausgestatteten Bediensteten, der am nächsten Morgen eine Nachricht bringt. Sie formuliert die zweideutige Antwort an Schach, die ihrer Mutter zu „pikant“ ist. „Du“, erwidert Victoire, „dürftest sie auch nicht schreiben. Aber ich? Ich darf alles.“ Victoire hat sich entschieden, ihre Benachteiligung in Freiheit zu verwandeln. Sie deckt aus dieser Freiheit heraus auch schon den tiefsten Zug Schachs auf, der wider eigenes Erwarten, von ihr allein sich immer recht verstanden fühlt. Sie fragt ihn bei einem gemeinsamen Spaziergang: „Hätten Sie´s vermocht als Templer zu leben und zu sterben?“ Ohne Zögern antwortet Schach mit: „Ja.“ Was ihn reizt, ist die schöne Reinheit einer Ordensexistenz, ihr klarer Schein, der keine Trübung kennt. Und dunkel ahnen an dieser Stelle beide schon, wie sie einander verfehlen werden.
Es folgt in der Erzählung ein Brief Victoires an ihre beste Freundin, der Versuch eines Selbstbetrugs, der scheitern muss. Der Freundin gratuliert Victoire, die selbst so leidenschaftlich ist, zu einem mäßigen Ehemann und warnt diese vor Träumen und Trauer. Sie berichtet von ihrem Gespräch mit Schach, das tief und schön gewesen sei. Jedoch habe er sie dann einfach zugunsten ihrer Mutter stehen lassen. „Dann bot er ihr den Arm, so gingen wir nach durch das Dorf nach dem Gasthause zurück, wo der Wagen hielt und viele Leute versammelt waren. Es gab mir einen Stich durchs Herz, denn ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass es ihm peinlich gewesen sei, mit mir und an meinem Arm unter den Gästen zu erscheinen.“ Victoire geht in ihrer Analyse bis an die Schmerzgrenze und doch täuscht sie sich hinweg über ihre eigenen Gefühle für Schach. Sie erkennt in ihm trotz seiner Fehler einen „redlichen Mann“, denn sie sieht in seinem Streben nach einer ritterlichen Haltung etwas Edles und Echtes, das nicht bloß der Eitelkeit geschuldet ist.
Schach und Victoire
Während die meisten Kapitelüberschriften Orte bezeichnen, heißt Kapitel VIII schlicht „Schach und Victoire“. Victoire, die sich ein wenig unwohl fühlt, ist allein zu Hause geblieben. Sie liest die Antwort ihrer Freundin auf ihren Brief. Diese durchschaut Victoires Selbstbetrug. Zuletzt schreibt sie ihr etwas, das Victoires Verhängnis einleitet: „Dir lügt der Spiegel. Es ist nur eines, um dessentwillen wir Frauen leben, um uns ein Herz zu gewinnen, aber wodurch wir es gewinnen, ist gleichgültig.“ Wenig später macht Schach seine Aufwartung. Sie sind allein. Sie sprechen über die Liebschaften des Prinzen, die Schach verurteilt. Victoire hingegen betrachtet diese Urteile als rein gesellschaftlich bedingt. Sie spricht ihm davon, wie die Blattern sie frei gemacht hätten vom gesellschaftlichen Urteil: „Wovon andere meines Alters und Geschlechts erschrecken, das darf ich.“ Victoire, die nicht mehr mit Äußerlichkeit glänzen kann, muss es auch nicht mehr. Die Anpassungsanstrengung, behauptet sie, sei von ihr abgefallen. In diesem Moment erscheint sie Schach schön, in ihrer Erregung und Leidenschaft. „Was allein gilt, ist das ewig Eine, dass sich die Seele den Körper schafft oder ihn durchleuchtet und verklärt.“ Schach beschwört Victoires Anrecht auf Liebe: „Alles ist Märchen und Wunder an Ihnen; ja Mirabelle, ja Wunderhold.“ Und sie gibt sich.
Schach versteht nicht, wie ihnen geschehen konnte, was geschehen ist. Der Mutter hat er den Hof gemacht und die hässliche Tochter geschwängert. Was fühlt er nun für sie, für beide? Wie lächerlich wird vor aller Welt erscheinen, wenn er statt der schönen Frau von Carayon deren entstellte Tochter ehelicht? Er fühlt sich schuldig, zieht sich zurück, sucht Ausflüchte. Die Mutter stellt sich auf die Seite ihrer Tochter, rückhaltlos. Sie gibt nicht die gekränkte Verflossene, sondern fordert von Schach, dass er die Tochter heirate. Er findet sich ein, stellt sich die grausam glanzlose Zukunft fern des Hofes mit seiner hässlichen Frau an seiner Seite vor. Ein wenig tröstet ihn die Aussicht auf eine Hochzeitsreise nach Italien. Doch dann wird er mit einer Spottzeichnung konfrontiert, die ihn verhöhnt: „Le choix du Schach“.
In Wuthenow am See
Nach Wuthenow am See kehrt Schach in dieser Krise heim. Er wandert nächtens durch das Schloss, das Fontane für die von Wuthenows an die Lanke des Ruppiner Sees gestellt hat und im Kreis durch die Gärten, die zum See hinab führen. Er besinnt sich auf das Glück seiner Knabenjahre und fährt mit dem Boot hinaus auf den See. Hier mindert sich auf dem Wasser erstmals der Druck, „der auf ihm lastete“. Zuletzt betrachtet er die Ahnengalerie derer von Wuthenow und die Vision der Ehe kommt ihm: „Und dann ist das auch allmählich die Zeit da, sich malen zu lassen, malen zu lassen für die Galerie. Denn wir dürfen doch am Ende nicht fehlen! Und zwischen die Generäle rück dann ich als Rittmeister ein, und zwischen die schönen Frauen kommt Victoire. Vorher aber habe ich eine Konferenz mit dem Maler und sag ihm: ´Ich rechne darauf, dass sie den Ausdruck zu treffen wissen.´ ...Nein, nein!“ Daheim unter den bäuerlichen Bediensteten, den Zeugnissen eines stolzen Geschlechts, wie der Knabe, der er war, über den See gleitend, erkennt Schach, wer er ist: Ein Mann des Scheins, der schönen Oberfläche, ein Mann, der nicht gemacht ist für eine kleine, ehrliche und bescheidene Familienexistenz, aber auch nicht für eine große, heldenhafte, kriegerische, sondern allein dafür die Schönheit und die Anmut eines Adels, der sie in Wahrheit vielleicht nie besaß, in seiner Person darzustellen. Um diese, seine einzige - durchaus, wie Victoire hellsichtig erkennt, „mönchische“ - Berufung, bringt ihn die erzwungene Ehe. Nach dem Besuch in Wuthenow ist ihm klar, dass es aus dem Dilemma zwischen seiner persönlichen Vorstellung von Ehre (nämlich einer tadellos schönen Fassade) und dem, was die Welt dafür hält, keinen Kompromiss geben kann.
Aus Rom
Er hält sich – nach einigen Turbulenzen – an sein Wort, heiratet und erschießt sich nach dem Essen. Victoire, die Sitzengelassene hat das letzte Wort, aus Rom: „Er wusste sehr wohl, dass aller Spott der Welt schließlich erlahmt und erlischt, und war im übrigen auch Manns genug, diesen Spot zu bekämpfen, im Fall er nicht erlahmen und nicht erlöschen wollte. Nein, er fürchtete sich nicht vor diesem Kampf, wenigstens nicht so wie vermutet wird; aber eine Stimme, die die Stimme seiner eigensten und inneren Natur war, rief ihm beständig zu, dass er diesen Kampf umsonst kämpfen und dass er, wenn auch gegen die Welt, nicht siegreich gegen sich selbst sein würde. Das war es. Er gehörte durchaus, und mehr als irgendwer, den ich kennengelernt habe, zu den Männern, die nicht für die Ehe geschaffen sind....Ein Kardinal lässt sich eben nicht als Ehemann denken. Und Schach auch nicht.“ Victoires Kind lebt. In der Kirche Araceli hat sie vor dem Bambino, „eine hölzerne Wickelpuppe mit großen Glasaugen und einem ganzen Diadem von Ringen“ für das kranke Baby gebetet. Und es wurde gerettet.
Am Ende behält die Freundin recht und doch nicht recht: Denn es ist wahr, dass wir leben, um ein Herz zu gewinnen, aber es ist nicht wahr, dass wir nur leben um das eine Herz zu gewinnen. Victoire von Wuthenow, wie Theodor Fontane sie schuf, hatte immer das ganze Herz ihrer Mutter, das Herz ihrer lieben Freundin Lisette und gewann für Momente dasjenige Schachs. Sie wird die Mutter eines Kindes, dem ihr ganzes Herz gehört. Dafür, für all das, leben wir. Und ich wünschte, dies „wir“ schlösse Männer und Frauen ein. Ein Mann wie Schach könnte auch eine Frau sein, die für eine Idee lebt. Eine Heilige. Ich mag das Wort so wenig, wie Victoire das Wort „Ritter“.
Deinen Beitrag muss ich nächste Woche oder so mal studieren. Fange nämlich morgen an, das Buch für die Uni zu lesen :-)
AntwortenLöschenErzähl mal, wie du es gelesen hast. Bin gespannt.
AntwortenLöschen