Virginia Woolf wurde heute vor 130 Jahren geboren. Ganz, allerdings, stimmt das nicht, denn sie wusste genau, dass unsere Geschichte weiter zurückreicht als bis zu jenem Tag, an dem wir aus einem mütterlichen Leib gepresst werden. Die fiktive Biographie ihrer Geliebten Vita Sackville-West, die sie verfasste, birgt das Wissen darum, wie sich die Traditionen, Träume und Enttäuschungen aus Jahrhunderten in unsere Körper einschreiben. Viriginia Woolf, die in einem Haushalt aufwuchs, in dem regelmäßig „bedeutende Männer“ (wie Henry James, Sidgwick, Watts, Burne-Jones) zu Gast waren, die um Teetische saßen, rauchten und sich scheinbar zwanglos verständigten, brauchte keine zu sagen, dass der Mensch zwei ist (und mehr). Über jene Männer, denen das junge Mädchen lauschte, schrieb sie später: „Und ich, die mit am Tisch saß, war völlig außerstande, irgendwelche Zusammenhänge zu erkennen. Es gab so viele verschiedene Welten – aber alle lagen mir so fern.“ Das prägte ihr Werk: Die Erfahrung, dass das Geschlecht, als das wir gelesen werden und uns selber erfahren, uns ausmacht und beschränkt - und dennoch jeder Mann und jede Frau Möglichkeiten in sich trägt, die unverwirklicht bleiben müssen, wenn wir uns festschreiben lassen auf jene Mann/Weib-Dichotomie, die fast zwangsläufig Heterosexualität als Norm setzt und alles gleichgeschlechtliche Begehren in den Subtext bannt.
I am reduced to a thing that wants Virginia.
(In ihre Photographie verliebte ich mich – unsterblich möchte ich sagen – mit 17 Jahren. Bis zum heutigen Tag ist die Postkarte, die ich damals in einem Buchladen kaufte, an eine Schublade meines Sekretärs gelehnt. Wie oft habe ich mit dem kleinen Finger ihr markantes Profil nachgezeichnet, über die tiefen Lider gestrichen, die halbgeöffneten Lippen berührt, die Kurve des Kinns genommen, um endlich jene Stelle zu erreichen, nach der ich mich sehne, den Schatten am Übergang zwischen Kieferknochen und schlankem Hals. Im Frühherbst 1990 stand ich in einem Trenchcoat am River Ouse, in dem sie sich ertränkte. An keinem Ort der Welt habe im mich je mehr angekommen gefühlt als in ihrem Haus bei Lewes in den South Downs. Das bleibt – )
Wie die Traurigkeit fortbesteht, dass die Liebe eines guten Mannes, in dessen Obhut sie sich begeben hatte, sie nicht retten konnte; eine Traurigkeit aber, in die sich stets auch ein Hauch von Zorn mischt, denn etwas in mir fühlt parteiisch mit jenem Mann, mit Leonard Woolf, der alles versuchte. Virginia Stephen hatte Leonard Woolfs Heiratsantrag nicht angenommen, ohne ihm freimütig zu gestehen, wie wenig sie ihn körperlich begehrte. Sie behauptete dennoch stets, dass die Ehe glücklich geworden sei. Er konnte ihr viel geben – und wie viele Frauen hatte sie gelernt, es zu lieben, geliebt zu werden. Was ihn vor anderen Männern vor allem ausgezeichnet haben dürfte, war die Fähigkeit, mehr Interesse und Hingabe zu zeigen für das, was sie tat, als für das, was er mit ihr machen wollte.
Im Dezember 1922, im Alter von 40 Jahren, lernte Viriginia Woolf Vita Sackville-West kennen. Der Geliebten setzte sie in der Roman-Biographie, die für mich ihr schönstes und bedeutendstes Werk ist, ein Denkmal: Orlando. Von Vita Sackville-Wests literarischen Ambitionen hielt Virginia Woolf wenig. Sie verhielt sich in dieser Beziehung wie viele Männer, wenn sie eine Frau begehren: fasziniert von Vitas Adel, ihrer Schönheit, ihrer Abenteuerlust, aber ohne Interesse für ihre Gedankenwelt und Ausdrucksformen.
Vita Sackville-West stammte aus ältestem englischem Adel; sie sah sich selbst als legitime Erbin von Knole House, dem gigantischen Familienlandsitz in Kent. Als Frau jedoch blieb sie von der Erbfolge ausgeschlossen. Sie führte eine offene Ehe mit dem Diplomaten Harold Nicolson, in der beide ohne Versteckspiel und Betrug ihr gleichgeschlechtliches Begehren mit anderen Partnern und Partnerinnen auslebten.
Vitas adelige Herkunft und der damit verbundene Habitus übten auf Virginia eine ambivalente Anziehungskraft aus, weil darin Momente von Freiheit erlebbar wurden, die ihr selbst aufgrund ihrer bürgerlichen Sozialisation verwehrt blieben: ein Hang zum Luxus, der sich um Schulden nicht schert, sexuelle Freizügigkeit und Toleranz, die keinen unauflöslichen Widerspruch zwischen Familie und homoerotischem Begehren schaffen, ein Selbstbewusstsein, dass sich auf Privilegien von Jahrhunderten stützt, Schönheit, die sich ihrer Wirkung unverkrampft bewusst ist und diese nutzt, Tatkraft und Mut, die sich nicht selbst durch Grübelei und Skrupel ausbremsen:
„I like her & being with her, & the splendour – she shines in the grocer´s shop in Sevenoaks with a candle lit radiance, stalking on legs like beech trees, pink glowing, grape clustered, pearl hung. That is the secret of her glamour, I suppose. Anyhow she found me incredibly dowdy, no woman cared less for personal appearance – no one put on things in the way I did. Yet so beautiful, & c. What is the effect of all this on me? Very mixed. There is her maturity & full breastedness: her being so much in full sail on the high tides, where I am coasting down backwaters, her capacity I mean to take the floor in any company, to represent her country, to visit Chatsworth, to control silver, servants, chows, dogs; her motherhood (...), her being in short (what I have never been) a real woman.“
Im Zentrum von Woolfs Begehren steht die Sehnsucht nach „maternal protection“. Es geht um die Entdeckung der symbolischen Mutter in der anderen Frau, um eine andere, noch kaum erprobte Gründung des „Ich“, die nicht auf der Leugnung der Leiblichkeit (des mütterlichen Schoßes) und dem Vatermord beruht. Das „Ich“, das hier geboren werden soll, die Autorschaft, die sich in Orlando erschreibt, ist daher als Gegenentwurf zur Kopf-Selbstgeburt des (männlichen) Künstlers zu verstehen. Nur diese Rückbindung macht die geschlechtliche Ambiguität Orlandos glaubwürdig, die eben keine Travestie ist, kein Versuch sich selbst über das Andere auszudrücken, es zu überschreiben (also nicht: Flaubert als „Madame Bovary“).
I was in a queer mood, thinking myself very odd: but now I am a woman again - as I always am when I write.
Orlando, von dem im ersten Satz des Romans gesagt wird, sein Geschlecht sei unverkennbar „wenngleich die Mode der Zeit es eher verkleidete“, wechselt seine geschlechtliche Identität nicht zufällig. „It was a change in Orlando herself that dictated her choice of woman´s dress and of a woman´s sex“, erklärte Virginia Woolf später. Dass Geschlecht ein Konstrukt ist, setzt Woolf voraus. Aber wir sind auch nicht „Menschen“, bevor wir ein Geschlecht haben. Gegen diesen Universalismus, der in Wahrheit nichts anderes behauptet, als dass der Standpunkt und Blickwinkel des weißen, europäischen Mannes der humane ist, richtet sich Woolfs Werk. Das Konstrukt der Zweigeschlechtlichkeit aber veränderte mit der Epochenschwelle im 18. Jahrhundert Form und Balance: Von nun an wurden Weiblichkeit und Männlichkeit als „natürliche“ Gegensätze gelesen. Indem Orlando an dieser Schwelle als ihr geschlechtliches Schicksal das Frausein wählt, wählt sie nicht die „Natur der Frau“, sondern triumphiert über diese. Denn sie wird eine Frau sein mit dem kulturellen Gedächtnis eines Mannes. „Ich bin ein Weib,...bin endlich ein wirkliches Weib.“ Der Erbfolge-Prozess wird entschieden: „´. ..Geschlecht? Ah! Was ist´s mit dem Geschlecht? Mein Geschlecht´, las sie mit einiger Feierlichkeit vor, ´wird unbestreitbar und ohne jeden Schatten eines Zweifels – was habe ich dir vor einem Augenblick gesagt, Shel?´ - für weiblich erklärt.“ – Die Frau Orlando tritt das Erbe an, um Mutter zu werden. Das ist die Utopie der fiktiven Biographie, die damit endet, dass sie ihre schönen Brüste dem Mond entblößt: „so dass ihre Perlen brannten wie phosphoreszierende Leuchtkugeln in der Dunkelheit.“
As a woman I have no country. As a woman my country is the whole world.
Vita Sackville-West erbte Knoles nie. Noch immer ist es utopisch, dass Weiber wie wir das Erbe der patriarchalischen Kultur unversehrt antreten, denn wir bringen kein männliches Gedächtnis mit, um diese Aneignung zu bewerkstelligen. Geschichte müsste umgeschrieben werden, so dass, wie in Virginia Woolfs „Orlando“ die Möglichkeiten erkennbar würden und nicht die Ergebnisse festgestellt. Die erotische Anziehungskraft zwischen den beiden Frauen verging. Die Freundschaft hielt – bis zu Virginias Tod. Und darüber hinaus, möchte ich glauben. Denn so wie wir weiter zurückreichen als bis zu unserem Geburtstag, so reichen wir auch hinaus über den Tag unseres Todes. Virginia Woolf hat mir „Ein Zimmer für mich allein“ gegeben und Vita Sackville-West schuf mit Sissinghurst einen Garten, der meine Welt schöner macht.
Das Zimmer bedeutet mir auch sehr viel. Nach wie vor.
AntwortenLöschenSchön, dass Sie hier an die wirklich wichtigen Geburtstage erinnern.
Danke. Virginia Woolf ist aus ganz vielen verschiedenen Gründen eine der wichtigsten Autorinnen in meiner Lese-
AntwortenLöschenBiographie. Die fischer-TB stammen alle aus den Jahren zwischen meinem 16ten und 18ten Lebensjahr.
Orlando, das ich damals in der deutschen Übersetzung las, lese ich jetzt auf dem Kindle auf Englisch. Noch einmal ein ganz frisches Erlebnis. Ich lud es in Wien herab, als Morel und ich die Ausstellung "Wintermärchen" besuchten. Die kleine Eiszeit im 16. und 17. Jahrhundert während der die Themse regelmäßig zufror - bei diesem Bild musste ich sofort an die russische Prinzessin denken, die Orlando so leidenschaftlich beim Schlittschuhlaufen liebte, - und die ihn verließ. Die Themse, die Gezeiten, der Klimawandel - auch dieses Motiv "verfolgt" mich geradezu, denn meine Melusine aus "Ich küsse mein Leben in dich. Die Martenehen" (drüben im Schwester-Blog "Melusine featuring Armgard" s a h wie die Barrier brach. Sie sah es nicht voraus. Sie sah es geschehen...
Manchmal ist mir unheimlich, wie diese Bilder zu mir kommen und lebendig in mir sind, wirklicher als das, was man so "Realität" nennt.