Sonntag, 23. Dezember 2012

FITTING JUST RIGHT (über "Beasts of the Southern Wild")

Quelle: FAZ
"Once upon a time there was a Hushpuppy and she lived with her father in the Bathtub." Hushpuppy erzählt sich als ein Märchen und sie legt Wert darauf, dass diese Geschichte weiter erzählt wird. Es ist wichtig, dass jemand in einer fernen Zeit sich daran erinnern kann, dass Hushpuppy gelebt hat und was sie erlebt hat mit ihrem Vater und ihren Freunden in "The Bathtub".

Benh Zeitlins Debütfilm ist ein Wunder; so viel Weisheit und Wärme steckt in diesem Erstling eines noch sehr jungen Mannes (geboren 1982), so viel poetische Originalität und so viel gewaltig schöne Bilder. Und noch wunderbarer ist es mitzuerleben, wie ein Kollektiv so unterschiedlicher und begabter Laien zusammen wirkt. "Beasts of the Southern Wild" ist das Gegenteil zum "Autoren-Film", durch den die Idee der individuellen Autorschaft auf die Filmkunst übertragen werden sollte, stattdessen feiert er die Rückkehr zum Film als Produkt eines kollektiven Wirkens, einer orchestralen Arbeit, deren Einheit nicht durch ein singuläres genialisches Bewusstsein hergestellt wird, sondern als Fügung in ein gemeinschaftliches Projekt. Was dieser Film damit wird und ist, davon erzählt er auch: Wie aus den Beziehungen, den fragilen, schmerzlichen, anstrengenden, gewaltsamen und liebevollen Bindungen, auf die sich Menschen einlassen, unter denen sie leiden, lieben, sterben Individualität und Identität entstehen.

Hushpuppy lebt mit ihrem Vater vor New Orleans in den Bayous. Stürme verwüsten das sumpfige Gebie; ein Damm schützt am Horizont die Industrieanlagen vor den Fluten und setzt zugleich "The Bathtub", in dem eine Gruppe von Individualisten gegen alle Vernunft ausharrt, um ein selbstbestimmtes  Leben jenseits von Konsum- und Arbeitswahn, von Sozialfürsorge und Rechtssystem zu führen, mit jedem Unwetter mehr unter Wasser. In dieser verschworenen Gemeinschaft, die sich zwischen Zivilisationsmüll und Naturgewalten eingerichtet hat, lebt man nach eigenen Regeln. Nirgendwo auf der Welt, weiß Hushpuppy, gibt es mehr Ferientage als in der "Badewanne". Es wird roh gefeiert und geflucht, gesoffen und gezankt. Dennoch weiß man auch hier um den Klimawandel. In der provisorischen Schule erfährt Hushpuppy, dass die Polklappen schmelzen. Aber alles ist hier in Mythen eingebettet. Auf den Oberschenkel der Lehrerin sind Bilder von Auerochsen tätowiert, die einst die Erde beherrschten und dann im Eis eingeschlossen wurden. Wenn das Eis schmilzt, werden die prähistorischen Monster sich befreien und erneut die Herrschaft übernehmen, erfahren die Kinder.

Das sechsjährige Mädchen Hushpuppy, das von Quevenzhané Wallis gespielt wird, wohnt in einem eigenen Stelzenhaus nahe dem ihres Vaters. Von Hushpuppy wird erwartet, dass sie ein paar Tage allein zurecht kommen kann, wenn der Vater unterwegs ist. Ein sozialkritischer Film beschriebe Hushpuppy als ein verwahrlostes Kind. Hier aber wird ein Kind gezeigt, das Angst hat, das überfordert ist, das manches versteht und vieles nicht und das lernt, sich selbst zu helfen, indem es sich die Geschichten weiter- und forterzählt, mit denen es aufgewachsen ist. Dieses Kind ist weder unschuldig noch ausgeliefert, sondern Subjekt seiner eigenen Erzählung. Der Film hält sich konsequent an die Perspektive Hushpuppys, die zu leiden hat unter dem Zorn und der Furcht ihres sterbenden Vaters, aber sich zugleich niemals als Opfer sieht und von diesem auch nicht dazu gemacht wird. Der kranke Vater will Hushpuppy auf eine Zukunft vorbereiten, in der sie Vollwaise sein wird, denn die Mutter ist lange schon fort, gestorben wahrscheinlich bei Hushpuppys Geburt. Dwight Henry, der im "richtigen Leben" Bäcker in New Orleans ist, spielt die Verzweiflung und den Mut dieses Mannes, seinen Stolz auf das starke Mädchen und seine Angst um sein geliebtes Kind so anrührend und glaubhaft, dass einem die Tränen kommen.

"Beasts of the Southern Wild" ist neben Wes Andersons "Moonrise Kingdom" mein Film des Jahres und ich bin sehr dankbar, dass ich ihn sehen konnte. Beide Filme werden als Märchen erzählt. Sie münden in ein fragiles Happy End: Nichts bleibt, wie es war, aber es geht immer weiter. Es kommt nicht darauf an, alles zu analysieren. Die Vergangenheit ist nicht aufzudecken wie ein Rätsel, sondern immer wieder als Geschichte neu zu erfinden. Auch sich selbst findet man nicht wie die Antwort auf eine Frage, sondern man erfindet sich als die Verbindung zu allem anderen. "The whole universe depends on everything fitting just right."

6 Kommentare:

  1. Habe gerade bei Phyllis und nun hier bei Dir über den Film gelesen. Klingt wirklich sehr schön und nach etwas, das ich unbedingt sehen will.

    Liebe Melusine,
    ich wünsche Dir frohe Weihnachten, eine schöne Zeit mit Deiner Familie, auch für den Jahreswechsel in Dublin und freue mich auf ein komplettes neues Jahr, in dem sich bestimmt die eine oder andere Gelegenheit für einen Besuch in Frankfurt bieten wird.

    Herzliche Grüße,
    Iris

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    1. Dir auch schöne Feiertage und einen guten Rutsch, liebe Iris. Bestimmt sehen wir uns im nächsten Jahr.

      (Ich hoffe, Du kannst den Film sehen. Das Märchenhafte, glaube ich, wird dich auch bezaubern.) Liebe Grüße

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  2. Ich hab' nun mehrmals den Trailer gesehen und war jedes Mal der Ansicht, dass das bestimmt ein ganz schön verstrahltes, ein wenig auf spirituell gekämmtes Feelgood-Movie sei. Nun wendet sich alles und ich habe richtig Lust bekommen, mir den Film doch noch anzusehen - und frage mich, ob ich da nicht völlig falsch geurteilt habe. Danke jedenfalls für die (wie immer wunderbare) Rezension!

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    1. Ich glaube, es ist ein "Feelgood-Movie", aber weniger spirituell als kindlich (ohne das dies ein Widerspruch sein müsste). Was ist kindlich? Ich glaube, es ist ein unerschütterlicher Optimismus mit einer kleinen Prise Größenwahn: Yes, I can! Es ist etwas, das ich mir auch bewahren will gegen den schein-erwachsenen Zynismus und die vorgebliche Klugheit der Negation. Vor allem ist es eine Haltung gegenüber dem Tod, die ihn nicht leugnet und dennoch niemals fragt: Was kommt danach? Es geht uns nichts an, was der Tod ist. Der Tod ist, wenn wir nicht da sind. Deshalb muss alle Anstrengung den Lebenden gelten (zu denen die Sterbenden gehören). Von den Toten heißt es dagegen: Radikal Abschied nehmen, weitergehen, die Erinnerung an sie in den Erzählungen aufheben. Davon handelt dieser Film. Und: Ja, das fühlt sich gut an, finde ich. (Ob die Musik einer eher kitschig und überhöhend erscheint, ist wohl Geschmackssache. Ich kann in dieser Hinsicht mein Urteil auf keinerlei Argumente stützen, sondern muss meinem Gefühl trauen. Mich hat sie nicht gestört, wie in anderen ähnlichen Filmen dieser Machart. Auch nicht der ständige Off-Kommentar, was mich sonst meistens eher nervt.)

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  3. Vielen Dank für diese "ergreifende" Rezension. Ich fühle mich (an der Hand) ergriffen diesen Film zu sehen.

    Schöne Weihnachtsfesttage.

    Achim

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    1. Danke! Und gleichfalls: Schöne Feiertage und einen guten Rutsch!

      Ein wunderschöner Film, ja.

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