"You´re making it up“, sagte B., als ich versuchte ihm die Geschichte zu erzählen. Also schwieg ich. Dabei ist dies eine der wenigen meiner Geschichten, die sich wirklich so zugetragen haben. Eben deshalb wirkt sie erfunden.
Lars traf ich im Sommer 1983 in Berlin. Er war ein Steinmetz aus Aarhus in Dänemark. Wir stießen auf eine Leiche, die in einen Müllsack verpackt im Landwehrkanal trieb. Wir liebten uns unter einem Eisenbahnviadukt. Man sieht sofort, warum B. diese Geschichte für eine - schlechte – Erfindung hält. Ein Mann mit riesigen Pranken, der Grabsteine haut. Eine Leiche, die im Landwehrkanal treibt. Liebe machen im Rhythmus der Züge. "Der Tod und das Mädchen". Es ist einfach zu perfekt. Sagte B. Aber genau so war es.
Die Fahrt nach Berlin im Frühsommer 1983 war meine erste Reise allein. Ich war noch nie in Berlin gewesen. Ich wollte ohne Begleitung fahren, um dem Abenteuer eine Chance zu geben. Ziellos schlenderte ich durch die große (damals nur halb so große) Stadt, irgendwann absichtsvoll dem Kanal folgend. Dann lehnte ich mich an einer bestimmten Stelle übers eiserne Geländer, den Brustkorb weit vorgeschoben und atmete durch. Ich bin da. Ein paar Stufen weiter unten stand er, stocherte mit einem krummen Ast nach einem grauen Plastiksack im Wasser. Eine weiße Hand ragte aus dem mit einem gelbgrünen Strick bandagierten Müllsack. Er schaute zu mir hoch, als habe er mich erwartet. „It´s a corpse in a trash bag.“, das weiche Dänen-Englisch in tiefem männlichen Bass. Ein scharfer Kontrast, der mich beben machte, mehr als die tote Hand. „A corpse.“, wiederholte ich. Das Wort kannte ich nicht. „A body. Girl.“ Ich glitt am Geländer entlang, zu der kleinen Treppe ans Wasser, rückte vor, auf die erste Stufe hinab. „Hi“, sagte ich. „Girl.“, sagte er. Stupid. Ich glaube nicht, dass wir uns in die Augen schauten, überhaupt nicht, dass wir uns anschauten. Ich nahm ihn wahr, seinen ganzen wuchtigen, durchgearbeiteten Körper. Ihn, wie er da war, die Schultern übers Wasser geschoben, groß, fest, kühl, ein skandinavischer Felsen gegen den meine flirrige Leichtigkeit brandete. Sofort. Erst dann sah ich ihn: Stoppelkurz geschnittene orange Drahthaare über einer dominierenden Nasenwurzel, grüne tiefliegende Augen, starkes Kinn, Ohrring im linken wulstigen Ohrlappen, vor allem aber riesige, kräftige Hände, gelbliche Hornhaut an den Kuppen, schmale Hüften unter dem breiten Oberkörper. Er zog mit dem Ast langsam den Sack ans Ufer.
„Gimme another stick“, sagte er. „Eine S-tock.“ Ich stolperte die Stufe hoch, suchte unter den Alleenbäumen nach einem starken Ast, grabschte einen, eilte zurück zu ihm, drückte ihm den in die linke Hand. "Danke" sagte er nicht. Mit den beiden Ästen wuchtete er geschickt den schweren Sack an Land. Er atmete einmal lang und tief durch.„Polisei?“ Ich nickte. „Ich rufe die Polizei.“ „O.K. Girl“. Er ließ sich auf den Boden gleiten; das sah trotz der Schwere seines Körpers geschmeidig aus. Ich suchte am Kanalverlauf nach einer Telefonzelle, fand schließlich eine, wählte den Notruf, versuchte unseren Leichenfund kurz und präzise zu melden. Dann ging ich zurück und setzte mich dicht neben ihn auf den Boden. So warteten wir.
Anschließend zog sich alles endlos hin: die Bergung der Leiche, unsere Aussagen auf dem Revier. Als wir schließlich auf der Straße standen mit unseren Rucksäcken, war es schon Abend. Ich wusste jetzt, dass er Lars hieß und in Aarhus in Dänemark lebte. Sein Beruf war Steinmetz, was sich aber erst nach längerem Hinundher klären ließ. „I´m making gravestones, you know?“, sagte er zu den Beamten. Ich übersetzte: „Grabsteine. Er macht Grabsteine.“ Da trugen sie „Steinmetz“ in die Spalte ein. „Actually I want to make sculptures.“, erklärte er mir in einer Verhörpause. „But one has to earn money, somehow. So by shaping gravestones I get the equipment and access to stones.“ Ich nickte. Er half mir, meinen Rucksack aufzusetzen. „Let´s go.“ Es schien jetzt selbstverständlich, dass wir zusammen blieben. Er zog aus der Seitentasche seiner Jacke einen Stadtplan. „Youth hostel is in S-arlotteburg.“ Ich folgte ihm, ohne nachzudenken.
Wir unterquerten ein Bahnviadukt. Abrupt drehte er sich zu mir um: „Girl.“ Er hatte mich durchschaut. Ich war technisch keine Jungfrau mehr, aber ein Mädchen. Noch mit keinem Mann (eigentlich waren es alles Jungs gewesen) hatte ich mich erkannt. Wortlos presste er mich gegen die harte Steinwand, löste den Rucksack von meinen Schulter, der glitt mir zwischen die Beine. Mit seinen großen Händen konnte er meinen ganzen Schädel umfassen. Seine Lippen waren hart auf den meinen. Ich öffnete den Mund nicht, aber ich wich ihm auch nicht aus. Das war roh. Dann lockerte er seinen Griff, rückte ein wenig ab. Mit seinen Daumenkuppen strich er mir von den Mundwinkeln aus nach innen. “Pige.“ Seine rauen Finger waren erstaunlich zärtlich. Der nächste Kuss war anders: langsam, lösend, feucht, schließlich richtig nass. Meine Hände suchten den Bund seines Kapuzenpullovers, um darunter zu gleiten. Mit ganzer Kraft versuchte ich seinen Oberkörper zu umfassen, seine Schultern mit den Fäusten wegzupressen. Da stieß er mich von sich. Jetzt sah er mir in die Augen, während seine Hände unter meinen Pullover fassten, meine Brüste umschlossen, seine Hände, die soviel größer waren als nötig dafür. Er drückte brutal zu. Ich schrie auf. „S-till.“ Dann wurde er zart, seine Pranken verwandelten sich in Schmetterlingsflügel. Er zeigte mir, dass er bereit war, indem er mich mit seinem Unterleib an die Wand drückte. Er öffnete die Reißverschlüsse der Hosen, hob mich hoch und drang in mich ein. Mein Rückgrat war senkrecht durchgedrückt an der Wand bis hoch zu Scheitel. Er hielt mich ganz fest. "Stop motion." Über uns ratterten die Züge: Die Bewegungen gegen den Stillstand meines Körpers. Dir. Dir. Dir. Dir will ich gehören.
Später fuhren wir mit der Bahn von Kreuzberg nach Charlottenburg, nahmen uns Betten in der Jugendherberge, in getrennten Schlafräumen für Männer und Frauen. Nachdem wir unsere Rucksäcke in den Spinden verschlossen hatten, suchten wir uns eine Kneipe, um etwas zu essen und zu trinken, unterhielten uns über die Reise, seine Skulpturen, meine Texte. In schneller Folge entwarf er einige Skizzen auf weißen Servietten, die uns zeigten: am Kanal, unter dem Viadukt, in der Bahn, in der Kneipe. Er nannte sie: „Once knew a girl 1-4“. Die Nacht verbrachten wir auf einer Parkbank. Am nächsten Morgen frühstückten wir in der Jugendherberge, am Mittag tuckerte wir über den Wannsee. Ich lehnte neben Lars an der Reling, unsere Hände über einander, meine verschwanden unter den seinen. „I love your hands.“ „I love your funny mouth.“
Wir schrieben uns beinahe täglich. Aus Dänemark schickte er mir im August eine Kasette mit Liedern: „Berlin“ von Lou Reed, The Velvet Underground and Nico, David Bowie, eine dänische Punk-Band namens Tigge. Im September kam er zu Besuch auf der Durchreise nach Barcelona. Voller Stolz führte ich ihn die Hauptstraße entlang. Genoss das Getuschel der Nachbarn: „´s Anne hat ´n Ausländer. Und en Ohrring trägt der.“ Er durfte bei uns im Hobbykeller schlafen. Meinem Vater gefiel er. Aber er sagte auch: „Bitte nicht unter meinem Dach.“ Also ging ich in der Nacht nicht runter zu ihm. Am Nachmittag nach seiner Ankunft fuhren wir mit den Rädern zur Ruine, wo wir Mike trafen. Mein Freund und mein Geliebter. Wir lagen bis tief in die Nacht zu dritt auf der Burgmauer, die meiste Zeit schwiegen wir. Ein bisschen bekifft waren wir auch. Ich fühlte mich wie Jeanne Moreau in „Jules et Jim“. Aber den Film sah ich in Wirklichkeit erst später.
Auf dem Bahnhof küssten wir uns wie bei ersten Mal unter dem Viadukt. Er schrieb mir sieben Postkarten aus Barcelona. Und noch viele Briefe aus Aarhus in Dänemark. Einmal schickte er zwei der Skizzen mit, die er in der Kneipe in Berlin gemacht hatte. Aber ich wusste schon als sein Zug abfuhr, dass ich ihm nicht mehr antworten würde. Ich hatte ihn besser verstanden, als er sich selbst: „Once knew a girl“. Was wir miteinander hatten, war immer Erinnerung.
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