Jeden zweiten Samstag breche ich um 14.00 Uhr ins Stadion auf. Bevor ich zum Bahnhof radle, vollziehe ich eine Verwandlung: mein Trikot, meine Mütze , mein gestreifter Schal. Wer mich nicht vom Fußball kennt, erkennt mich jetzt kaum mehr. Auf dem Bahnsteig treffe ich auf Gleichgesinnte. Manche halten sich bereits an den Bierflaschen fest und haben den glasigen Blick. Zuweilen erschallen auch hackebreite, widerliche Gesänge. Das ignoriere ich. Trotzdem steigert sich, wenn die Bahn einfährt, meine innere Spannung. Ich spüre, wie sie von den Füßen her hochsteigt: Heute will ich meine Mannschaft siegen sehen.
Auf der Fahrt höre ich den selbsternannten Experten, die die Aufstellung kommentieren, auf den Trainer schimpfen und die Spiele des letzten Spieltages zum wahrscheinlich hundertsten Mal analysieren, nicht wirklich zu. Fahrgäste „in Zivil“, die zusteigen, drücken sich meist vor der geballten Fußballmacht in die Ecken, versuchen entweder krampfhaft, Blickkontakt mit den vermeintlichen Hooligans zu vermeiden oder geben sich jovial und erkundigen sich nach den Aussichten für unseren Klub.
Es kommt vor, dass auch Fans der gegnerischen Mannschaft zusteigen. In der Regel bleibt es bei kollegial-distanziertem Zunicken, manchmal werden ein paar Bosheiten ausgetauscht. Sehr selten wird ein Kampfsingen angestimmt, bei dem es darum geht, die eigenen Lieder lauter durch den Waggon zu brüllen als die Gegner. An all dem beteilige ich mich nicht. Ich bin in diesem Wagen ein Unikum: eine Frau im Fußballtrikot ohne männliche Begleitung, ein Fan ohne Gruppe, eine begeisterte Anhängerin ihres Klubs, die in der Bahn zum Stadion Orhan Pamuks Istanbul-Buch liest.
Katrin und ich haben Dauerkarten für die Gegentribüne. Wir treffen uns aber erst im Stadion, da sie meist mit dem Rad kommt und die Fahrradabstellplätze auf der anderen Seite sind. Daher schlängele ich mich alleine durch die Horden zum Einlass, wo wir gefilzt werden. An jedem Durchlass teilen sich ein männlicher und weiblicher Security Guard den Job. Bei Frauen geht es schneller; weil wir weniger sind. Eine der stämmigen Aufpasserinnen klopft mich von den Schultern abwärts an der Außenkante ab, dann die Innenseite der Beine fast bis zum Schritt. Jedes Mal, wenn ich durch Tor B 30 ins Stadionrund trete und die Treppe zu unseren Plätzen hinuntersteige, klopft mein Herz schneller: die Fahnen, die Trikots, der Jubel, die Spannung der 40.000, die in der Luft liegt. Wir sitzen ziemlich nahe am Spielfeld, so nah, dass wir die Spieler schnaufen hören. Rundum begrüßen wir unsere Nachbarn mit Abklatschen. Man kennt sich. Immerhin sieht man sich alle zwei Wochen. Ich habe einige sehr gute Freunde, die ich nicht so häufig und regelmäßig treffe wie meine Stadionnachbarn.
Rechts neben mir sitzt Helmut. Helmut ist 63 Jahre alt und hat über 40 Jahre in einer Gummireifenfabrik gearbeitet. Dann ist ihm ein Gabelstapler über den linken Fuß gefahren. Alle Zehen mussten amputiert werden. Seitdem ist Helmut Frührentner. Helmut kommt mit seinem Ex-Kollegen Werner. „Ich rechne es dem Werner hoch an, dass er den Kontakt gehalten hat.“, sagt Helmut. „Seit ich net mer schaff´,...“, so fangen viele Sätze von Helmut an. Oft klingen sie resigniert. Hier im Stadion hängt sich Helmut aber voll rein und unterstützt unsere Mannschaft lautstark. Nie jedoch brüllt er Beleidigungen der Gegner aufs Feld. Dass dagegen unterlässt Konni, der links neben Katrin sitzt, nie. „Hurensöhne“ ist noch eine der harmloseren Anreden, die er den gegnerischen Stürmern oder Verteidigern zuteil werden lässt. Er schaut immer ein bisschen entschuldigend zu uns herüber nach seinen Ausbrüchen, aber lassen kann er es nicht.
Hinter mir sitzt der Herr Gerichtspräsident, den wir auch tatsächlich immer mit „Herr Gerichtspräsident“ ansprechen. Er ist ein imposanter Herr mit kurzem grauem Borstenhaar, Adlernase, stechendem Blick und trainiertem Körper. Er trägt zum Fußball graue Chino-Hosen, Freizeithemd, legeres dunkelblaues Sakko und seinen Fanschal. Einmal hat uns der Herr Gerichtspräsident in den VIP-Bereich auf der Haupttribüne eingeladen. Man kann mit dem Wagen (natürlich dunkle Limousine der S-Klasse) unterirdisch vorfahren, steigt aus, ein Fahrer fährt den Wagen in die Haltebucht. Mit Aufzügen ging es hoch in die VIP-Schaukästen, von denen man zugegebener Maßen einen guten Überblick ins Stadionrund hatte. Edle Häppchen und gute Weine wurden gereicht. Die Reichen und Schönen standen in eleganter Freizeitkleidung herum wie auf jedem anderen Empfang auch. Einige hatten sich immerhin mit ein paar dezenten Fan-Accessoires versorgt. Am Spiel war kaum jemand interessiert, außer dem Ministerpräsidenten, der sich volksnah gab. (Ich ging zwischendurch während der Vorstellungsrunde schnell auf Toilette, weil ich dem nicht die Hand geben wollte.)
Der Herr Gerichtspräsident schätzt die Atmosphäre bei uns mehr, deshalb hat er sich den Platz auf der Gegentribüne gebucht. Diese Haltung käme nicht gut an, wenn er uns zu seiner Unterhaltung bloß benutzte. Er schreit und singt aber selbst eifrig mit und regt sich mehr als alle anderen über angeblich falsche Schiedsrichterentscheidungen auf. Daher wird er akzeptiert. Neben ihm sitzt „Elmar Elegant“, wie Katrin und ich ihn nennen, wenn wir unter uns sind. Direkt sprechen wir ihn mit dem Kürzel an, mit dem er sich vorgestellt hat: „Ich bin de Elle.“ Elle ist nicht elegant gekleidet. Er bevorzugt zu enge schwarze Lederhosen und stopft dahinein gerne gleichfalls eng geschnittene schwarze T-shirts oder Hemden. Wir geben ihm den Kosenamen, weil er jedes Mal, wenn ein gegnerischer Spieler in unserer Nähe einen Fehler macht, laut singt: „Das war super. Das war eeeee-lee-gant.“ Das macht besonderen Spaß, weil die Gemeinten nah genug sind, Elles Worte zu verstehen. Das hat schon einige sichtlich irritiert.
Es gibt, davon sind wir überzeugt, einen engen Zusammenhang zwischen Elles Abwesenheit und Toren für unseren Klub. Elle hat einen legendären Bierkonsum. Das führt dazu, dass er die Tribüne mehrfach während des Spieles verlassen muss, entweder um Nachschub zu holen oder um seine stets nachgefüllte Blase zu entleeren. Alle Tore, die wir in der letzten Saison für unsere Mannschaft gesehen haben, fielen, wenn Elle gerade unterwegs war. Wir vertreten außerdem die Theorie, dass die Wahrscheinlichkeit eines Tores für uns signifikant höher ist, wenn Elle aufs Klo geht als wenn er Bier nachordert. Daher wird Elle von uns häufig aufgefordert, seine Blase zu erleichtern. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass keineswegs jedes Mal ein Tor fällt, wenn Elle auf Toilette geht. Wäre es so, erfüllte sich erstmals in meiner Lebenszeit, was wir unverdrossen zu Beginn jedes Spieles singen: „Wir werden Deutscher Meister und holen den DFB-Pokal.“ Elle geht wirklich oft genug. Es ist aber so, dass sich bloß die Wahrscheinlichkeit eines Tores dadurch erhöht. Sicher ist es nicht. In Wahrheit kommt es wesentlich häufiger vor, dass kein Tor für uns fällt oder wir sogar ein Gegentor kassieren. Seit Katrin und ich die Plätze auf der Gegentribüne haben, sind wir schon zweimal aus der Liga abgestiegen. Gegen jede Erfahrung bin ich dennoch jeden zweiten Samstag voller Vorfreude und glaube fest an unseren Sieg. Ich stehe kerzengerade auf meinem Platz, wenn wir unsere Hymne singen, und halte meinen Schal in die Höhe, ich springe auf, wenn unser Rechtsaußen eine gute Flanke in den Strafraum gibt und ich fluche wie ein Rohrspatz, wenn unser halber Stürmer den Ball ungelenk übers Tor lupft. „Den muss er machen.“, schreie ich und Helmut schüttelt bedenklich den Kopf. Meistens verlassen wir das Stadion gedrückt. Wieder war es nix.
Aber in jeder Saison gibt es die Höhepunkte, die Siege über scheinbar unbezwingbare Gegner, den Moment, wenn wir alle aufspringen und brüllen: „Tooooor. Toooooor. Tooooooor.“, wenn wir uns in den Armen liegen und hüpfen vor Freude, dass wir den Bayern den sicher geglaubten Auswärtssieg verdorben haben. Nach jedem Tor unserer Mannschaft fasst Helmut mich mit beiden Händen um die Taille und hebt mich zum Torjubel hoch. Weil ich klein und zierlich bin, schafft er das trotz des lädierten Fußes. Am Anfang hat Katrin gesagt: „Wie kannst du dich von dem Alten so anlangen lassen?“ Er fasst mich aber nie ungebührlich an oder hält unnötig lange fest. Ich glaube, es ist einfach schön für ihn, zu spüren, dass er das noch kann. Und mich macht es froh, Helmut froh zu machen. Das gönne ich uns beiden.
Manchmal – selten – fahre ich in Hochstimmung zurück vom Stadion, rufe zu Hause an und bitte darum, einen Wein bereitzustellen, um auf den Sieg anzustoßen. Meistens ist meine Stimmung aber zunächst eher mies. In meinem Kopf läuft dann noch einmal das Spiel ab, mit all den vergebenen Chancen und vermeidbaren Fehlern. Ich ärgere mich und trauere: Wir werden niemals Deutscher Meister. Hüzün... – Bis kurz hinter M***. Dann packe ich das Istanbul-Buch aus - oder was immer ich zum Lesen eingesteckt habe – und schlage dort auf, wo ich das Buch vor 90 Minuten + 15 Minuten Pause + 2 x 30 Minuten An- und Abfahrt zugeklappt hatte. Ich beginne zu lesen.
Ich bin Fußball-Fan. Aber ich interessiere mich nicht für die Vor- und Nachberichterstattung. Ich lese unter der Wochen nicht den Sportteil in der Zeitung und ich weiß nichts über Spielertransfers und Ablösesummen. Ich liebe die Stimmung im Stadion, ich fiebere jeden zweiten Samstag 90 Minuten mit meiner Mannschaft und ich glaube bis zum Abpfiff an die Möglichkeit eines Sieges.Wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Bis zum nächsten Heimspiel...
Ich bin Fußball-Fan. Aber ich interessiere mich nicht für die Vor- und Nachberichterstattung. Ich lese unter der Wochen nicht den Sportteil in der Zeitung und ich weiß nichts über Spielertransfers und Ablösesummen. Ich liebe die Stimmung im Stadion, ich fiebere jeden zweiten Samstag 90 Minuten mit meiner Mannschaft und ich glaube bis zum Abpfiff an die Möglichkeit eines Sieges.Wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Bis zum nächsten Heimspiel...
Es gibt mehr weibliche Fußballfans, die über ihre Leidenschaft schreiben, z.B. Marie von Bilk auf Einseitig (Fortuna Düsseldorf)
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