Montag, 28. Juni 2010

Über das Böse


In unserer säkularisierten Gegend und Epoche ist es Konsens, das Böse zu leugnen. Worauf noch jedes Kind eine unbedingte Antwort erwartet: „Wer ist der Böse?“, das haben wir schlicht wegrationalisiert. Alles ist relativ: die verwerfliche Handlung, der Wille zu schädigen, der egoistische Trieb – sie lassen sich genetisch, hirnphysiologisch, soziologisch, psychologisch, pädagogisch erklären. Wie wir keine Theodizee mehr zu brauchen scheinen, so meinen wir, das Böse als berechenbar und beherrschbar beschreiben zu können. Ich glaube das nicht. Die Erinnerung an die Begegnung mit dem Bösen treibt mich um, seit ich Alban Nikolai Herbst: "Geheimnisse von Paris" (Les secrets de Paris)  lese. 

Das Böse habe ich getroffen. Es hat mir die Hand gereicht und ich habe die Wirkung dieser Berührung  tagelang nicht abwaschen können. Das Böse kam im Anzug daher und war sozial kompatibel. Das Böse konnte sich gut benehmen und fiel nicht aus dem Rahmen. Das Böse kann intelligent sein und gebildet. Das Böse kann dumm sein und dreist. Ich traf das Böse bei einem Empfang. Ich reichte ihm zur Begrüßung unbefangen die Hand – und diese Berührung traf mich wie ein Schlag. Ich sah ihm in die Augen. Da war nichts zu sehen. Ich habe erst Tage später erfahren, dass dieser Mann in Südamerika gefoltert hatte.

Ich glaube daran, dass es das Böse gibt. Es ist nicht rational erklärbar. Es ist der Massenmörder, der auf die Frage nach seinen Motiven antwortet: „Weil ich es kann.“ Ich glaube, dass Vilém Flusser recht hatte, der die „Geste der Zerstörung“ (Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie) beschrieb und das reine Böse vom unreinen, das pragmatische Motive kennt, unterscheidet. Der Folterer, den ich traf, hatte vielleicht Gründe. Doch tat er, dessen bin ich gewiss, was er tat, gern. Und tat mehr, als pragmatisch zu begründen war.

„...die Betrachtung der zerstörerischen Geste erlaubt auch, der Falle der Verharmlosung des Bösen zu entgehen, die von jenen gestellt wird, die alles relativieren. Auch solche Immoralisten kann man ruhig verachten, denn sie selbst verachten die Würde des Menschen, indem sie seine Fähigkeit zur Bosheit missachten. Es gibt, wenn auch selten, die Geste der einen, absichtslosen Zerstörung und Destruktion, den Verrat am Geist (an der Gestalt, an der Freiheit) aus reinen Motiven. Aus solchen Gesten kann man das Dasein als Gegenwart des Bösen in der Welt herauslesen; als das echte, radikale Böse. Es gibt den Teufel.´“

10 Kommentare:

  1. hm.
    alles böse ( ich sag mal alles grausame oder sadistische) als geste darzustellen, könnte doch innerhalb der nivellierung hin zur blossen geste irgendwie dumm sein.
    ( für mich ist das dumm )
    vielleicht sogar schon böse, folgt man leicht dem zitat ad "alles relativieren"
    eine "fähigkeit zu bosheit" taucht da noch auf, die relativierung findet hier z.b. durch das wort bosheit statt, welches ja ebenfalls hinsichtlich eines "echten radikalen bösen" allenfalls eine vorstufe ist, nach welcher sich zum bösen aufschaukelnd noch die bösartigkeit anschlösse.
    ( zumindest inneerhalb meiner konnotationen )
    das zitat ist mir also itgendwie ein rätsel.


    einen teufel gibt es für mich nicht.
    genausowenig gibt es für mich einen (einzigen ) gott.

    schönen tag übrigens, melusine!

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  2. p.s.
    also ein echtes radikales böses finde ich desweiteren schlecht formuliert.

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  3. Ich nehme jederzeit hin, Lobster, das du meine Ausdrucksweise oder Aussagen scharf kritisiert. Vilém Flusser dagegen, der die Phänomenologie der Gesten geschrieben hat, nehme ich gegen solche Ausfälle in Schutz. Da dir deine Verwendung des Wortes "Geste" offenbar nicht geläufig ist, denke ich, dass die von dir formulierte Kritik an der Sache vorbei geht. Eine Geste ist nach Flusser eben auf keinen Fall "harmlos".

    Ansonsten sind wir eben - radikal - unterschiedlicher Auffassung: Das Böse ist für mich so existent wie das Gute. Und ein Begriff von Würde gar nicht aufrecht zu erhalten ohne diese Setzung. Ich könnte hier auch mit Kant kommen.

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  4. das böse ist doch stets psychologisch interpretierbar - es ist teil eines möglichen menschlichen verhaltens- oder handlungsrepertoires.
    eine personifizierung des bösen, eine delegierung
    eines bösen zu einem übermächtigen geistwesen, desavouiert menschliche verantwortung.
    der mensch wird erfasst und zur marionette eines
    teufels und - da dies aus einer gott/teufel dyade entstammt, heilsverpsrechend auf religiöse texte zurückgeworfen.
    er ist damit eingebunden in ein obsoletes paranoia-impf-modell, welches über göttliche strafandrohung den menschen sozial machen soll.
    nun ist aber so wie ich das als laie sehe, kaum eine monotheistische religion in der lage, einen wirklich guten menschen hervorzubringen.
    die gründe hierfür interessieren mich schon nicht mehr.
    sie dürften innerhalb der monotheistischen texte selbst verortet sein.
    mit gott kommt der teufel in die welt.
    manchmal fällt es mir schwer beide auseinanderzuhalten.
    deshalb gehen ich beide auch nichts an.

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  5. der mensch braucht halt in seiner ungeheuren einsamkeit ( egal ob in gesellschaft oder alleine in der wildnis ) ein oder mehrere höhere geistwesen - ob als anlass seiner besorgnis oder seiner freude scheint mir persönlich egal zu sein.
    die böse geisterversammlung veranlasst ihn zu schutzmechanismen, die gute ... stellt ihm diese
    womöglich schon bereit insofern sie die böse nicht sogar übersteigt und quell von freude und dankesbekundungen aus sich heraus wird.
    das ist sicherlich umgebungsabhängig - die natur
    evoziert die facettierungen unterschiedlichster glaubenspraktiken / - auffassungen.
    naja - also weiter betrachte ich das nicht an.

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  6. sorry - noch ein p.s.

    die "vertreibung aus dem paradies" - episode ist doch fast schon eine sadistische geschichte.
    da duldet der schöpfergott in all seiner herrlichkeit keine anderen götter neben sich, sondern er muss auch noch den baum der erkenntnis seinen menschgeschöpfen direkt vor die nase knallen und ihnen dabei verbieten so vollkommen zu werden wie er selbst.
    ist das nicht grausam ?
    nein, denn er hat es ja nicht verhindern können, dass luzifer von ihm abfiel und er hat luzifer gegenüber "auf erden" kaum eine chance.
    würden die menschen ihm gleich geworden sein, wären sie genauso gehändikäppt wie er selbst.
    oder doch nicht ?
    vielleicht existiert also dieser sadismus abgetrennt des monotheistischen, aber als was anderes als als perversionen des geistes, als geisteskrankheiten, welche womöglich noch im bereich eines ganz normalen handelns innerhalb der realen welt interpertiert werden können.
    sehe keinen anderen ausweg als dagegen vorzugehen, begenet man "dem bösen".
    wie auch immer, gewaltlos oder mit gewalt.
    naja - ein ellenlanges kapitel, ginge man da weiter.

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  7. I'm sorry, but that takes the cake, brw.

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  8. Hallo Lobster, mein australischer Freund hat Differenziertheit deiner Aussagen kaum verstanden, sondern bloß, dass du die Existenz des Teufels leugnest. Er ist ein wenig rau, entschuldige. Ich schaffe es heute nicht mehr auf alles zu antworten. Ich bin sehr erschöpft von einem ereignisreichen Tag in der "realen" Welt.
    Bis morgen, dann antworte ich.

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  9. der teufel ist eine erfindung, naja schöpfung vor allem des christlichen gottes.
    mehr weiss ich nicht und das reicht mir auch schon.
    wenn sich jemand mit so einer vorstellungswelt anfreunden kann, ja so ein teufelswesen irgendwie sah, so ist das seine sache.
    wenn ich glaube, es gibt einen teufel so konstituiere ich ihn schon mit.
    was konstituiere ich dann mit ?
    im besten fall vielleicht noch sexualitätsbejahung.
    aber dein artikel geht darüber hinaus.
    nämlich zum bösen.
    das böse manifestiert sich in bösen handlungen und verhaltensweisen.
    dafür haben wir benennungen.
    und da suchen wir nach wie vor nach bemessungsgrundlagen.
    wo fängt zum beipiel egoismus an böse zu werden.
    usw.
    sollen wir uns gegen die benennungen auflehnen ?
    mir das übertragen zu versuchen finde
    ich ein wenig albern, wenn es nicht andererseits zu traurigen ergebnissen führen kann.
    macht man so etwas mit kindern, gehört es regelrecht bestraft.
    man kann sie damit paranoid machen.
    mit was bestraft man so etwas ?
    mit ausnehmender güte, mit was sonst.
    für mich existiert güte fern eines bösen.
    ich glaube nicht daran dass böses gutes evoziert.
    ich mag dialektik nicht.
    so einfach ist das für mich.
    und mehr lasse ich auch für mich nicht zu.

    alles in allem drückte ich mich allerdings hier etwas linkisch aus oder formulierte wirklich nur fragend an.
    sorry für die manchmal verfängliche, fast schon privatsprachliche ausdrucksweise.

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  10. @ Lobster - ich möchte tatsächlich auf all dies antworten. Ich glaube auch, dass ich meine Position erläutern kann. Doch nicht mehr heute Abend/Nacht. Auf morgen, ja? Gruß M.

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