Montag, 19. Juli 2010

Reisejournal (4): Verlockung


OXFORD STREET

Über die Oxford Street schreibt Virginia Woolf: "Es ist eine Brutstätte, ein Treibhaus für Sensationen. Gräßliche Tragödien scheinen nur so aus dem Pflaster hervorzusprießen! Scheidungen von Schauspielerinnen, Selbstmorde von Millionären finden hier so häufig statt, wie das in anderen sittenstrengen Wohnbezirken unbekannt ist. Hier folgen Neuigkeiten einander schneller als in anderen Teilen Londons. Die Menge der Vorübergehenden scheint geradezu die Farbe von den Großanzeigen zu lecken, mehr davon zu konsumieren und anhaltender nach der frischen Zufuhr späterer Ausgaben zu verlangen als anderswo. Der Geist wird zu einer klebrigen Scheibe, auf der Eindrücke haften bleiben und Oxford Street rollt darauf ein unendliches Band immer wechselnder Anblicke, Töne und Bewegungen ab."
150 Jahre vorher hatte Georg Christoph Lichtenberg erschüttert vom Treiben in Londons Handelsstraßen nach Hause ins behäbige Göttingen geschrieben, hier bewege sich ein jeder, als werde er "zu einem Toten gerufen." Die zwei Jahrhunderte, die uns von Lichtenberg trennen und das halbe, das Virginia Woolf im Vergleich zu uns fehlte, scheinen uns an die Hektik und Rücksichtslosigkeit des Großstadtalltags im Konsumrausch gewöhnt zu haben. Dass hier der Tod hinter den glitzernden Fassaden lauert, gelangt kaum in unser Bewusstsein. Dabei sind es Weihestätten des Todes, die uns mit so großer Macht anziehen: Der Verfall an das leblose "Ding an sich", dem wir nachjagen. 
Ich jage mit. Heute. Fashion victim. TopshopLondon, KateMoss, AgynessDeyn, CheapChampagne, VivienneWestwood,Brains&Beauty, BeauBrummel, IloveDandyism. Mode ist wichtig. Als Ausdrucksmedium. Change your style. Mode ist widerlich. Als Distinktionsmittel.  Label-Fanatismus. It-Bag-Terroristinnen. Kill design. Style yourself.
CU. Later. 
(18.45 GMT) Sie blieb standhaft. Recht lang. Dann in einer Seitenstraße, ein winziger Laden, dies Kleid, handbedruckt, meerblau. Sie zog es an, es saß - wie man so sagt - "wie auf den Leib geschnitten". In Mayfair tun sie das wirklich, passen die Gewänder an den Körper an, so dass kein Fältchen sich bildet, wenn man sich windet. Das kann ich mir nicht leisten. Dahin trüge ich das Mehr-Geld, wenn ich es hätte.
So aber leistete ich mir ein Pfund britische, fruchtig-süße Erdbeeren, dazu eine leckere Pastete von Fortnum&Masons und genoss das Picknick im Hyde Park. Die Sonne schien, eine Weile döste ich auf einer Hängematte neben dem roten Zelt an der Serpentine Gallery, später vom Schatten aus beobachtete ich die Tret- und Ruderboote auf dem See.

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