Sonntag, 18. Juli 2010

Reisejournal (3): Unterwelt

"Stein gewordene Trauer"

Heute werde ich die Unterwelt Londons erkunden, die Kanäle und Tunnel, die sich wie ein riesiges Netz unter der ganzen Stadt hindurch ziehen und nur gelegentlich an die Oberfläche gelangen, wo sich dann trügerische Idyllen zeigen. Abwasserkanäle, Bootsverbindungen, die U-Bahnschächte, der Themse-Tunnel - das Geflecht unter London it unübersichtlich. Keiner, sagt man, wisse um alle Geheimnisse dort unten.

Die Londoner waren stets fasziniert von dieser Unterwelt unter ihrer Stadt und seit je ranken sich Geschichten um das, was dort unten vor sich geht. Während der beiden Weltkriege wurden die unterirdischen Anlagen Zufluchtsort und Rettung für viele. Einige, erzählt die Legende, kehrten auch nach dem Ende der Angriffe nicht mehr in die Oberwelt zurück, führten ein Parallelleben unter der Stadt, in den Seitenarmen der U-Bahn-Tunnel, als Mitbewohner der Ratten, deren Zahl - wie in jeder Großstadt - die der Einwohner längst übertrifft.

Auch Nathaniel Hawthone stieg nach der Fertigstellung des Themsetunnels hinunter über eine "beschwerliche Reihe von Stufen, endlich weitete sich der Blick auf einen gewölbten Korridor, der in ewige Mitternacht geht". Es ist die Beschreibung einer "Stein gewordenen beklemmenden Trauer, angstvoller als jede Straße des oberirdischen Londons."

Später mehr - aus Londons Unterwelt...


(20.OO Uhr GMT) Die Geheimnisse der Unterwelt, sie offenbarten sich mir nicht bei dieser kurzen Stippvisite. Es wurde gearbeitet dort unten, vor allem gearbeitet. Harte Arbeit. Schweißgebadet auftauchen, die Gier nach Gin und Bier, durch die sich die Schmerzen betäuben lassen, bis es wieder hinunter geht: Tunnel graben, Schächte sprengen, Treidelkähne durch die engen Fahrwasser staken. Auch gestorben wird hier unten. Torkelnd kehrt einer des Nachts auf seinen Kahn zurück, trifft das Brett nicht, fällt ins seichte Wasser, nur 4 Fuß tief, doch sturzbesoffen kann er sich nicht wieder hoch raffen: im Brackwasser ertrunken. Oder: eine Prügelei, einer hat die Frau des anderen dumm angeschaut, ein harter Schlag ans Kinn, der Hinterkopf des Unterlegenen prallt gegen einen unregelmäßig vorstehenden Backstein. Die Blutspur wäscht das Sickerwasser in wenigen Wochen weg. 


Manche Verbrecher kamen besser davon: ein Investmentverwalter, der die Kanalbaugesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts um Tausende von Pfund betrog, die er bei Anlegern eingetrieben hatte, floh nach Edinburgh. Doch auch dort - der Widerstand der Schotten gegen das  vereinigte Königreich längst schon gebrochen - ereilte ihn der lange Arm des Gesetzes. Sentenced to - nein, nicht zum Tode, sondern zur Arbeit in den Strafkolonien, ab nach Down under.


Die Lösung hat Charme: Doch wohin könnten wir unsere Investbanker verfrachten? Auf die Kayman-Inseln? Dort blieben sie ganz unter sich mit ihren Konten. Absolute Kontaktsperre. Viel Spaß beim Zocken. Ist das technisch realisierbar?




Ein Licht am Ende des Tunnels...



2 Kommentare:

  1. Da bietet sich reinster literarischer Stoff. All die Geschichten, die sich dort "unten" ereigneten, die Gesichter, die im Dunkel entschwanden, die Wesen, die dort entstanden; all das schreit nach einer längeren Geschichte, liebe Melusine. Weiterhin viel Spaß beim Erkunden.

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  2. Danke! Ja, der "Stoff" ist hier überall. Dort unten war es kalt, fand ich, aber nicht schaurig. Ich mag die Dunkelheit - und den Blick ins Helle.

    Heute aber setze ich mich dem Terror der Oxford Street aus und verwandle mich in ein fashion victim (auch ein möglicher Tod).

    (Vormittags gehe ich zu Recherchen ins Old Bailey, auf den Spuren von Lord Peter Wimsey ;-)

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