Sommerlektüre
ein Gastbeitrag von MOREL
Die Summer-Fiction-Issue des New Yorkers erscheint immer rechtzeitig vor den Sommerferien, um an den Stränden der Ostküste oder mit zweiwöchiger Verspätung auch am Bodensee gelesen zu werden. In diesem Jahr wiederholt das Magazin einen Coup aus dem Jahre 1999. Damals wählte die Redaktion genau 20 Autoren unter 40 als Zukunft der amerikanischen Belletristik aus. Dabei waren zum Beispiel Jonathan Franzen („Die Korrekturen“, ein etwas öder aber dafür sehr langer Familienroman), David Foster Wallace („Unendlicher Spaß“, bekanntlich noch länger, aber weniger öde) und Jhumpa Lahiri, die auf eine leichte und tschechowmäßig melancholische Weise von Amerikanern mit indischen Wurzeln (oder eher vom Verlust dieser Wurzeln) erzählt.
Ob der New Yorker den Erfolg dieser Autoren prognostiziert oder nicht vielmehr durch die Prognose weiter befördert hat, ist nicht zu entscheiden. Zumindest wäre es für das literarische Leben auch in Deutschland besser, anstelle sentimentaler Homestorys und aufgeregter Pseudo-Debatten mehr Geschichten und Romanausschnitte lesen zu dürfen, die dabei helfen Unbekanntes für sich zu entdecken. Im diesjährigen Summer-Fiction-New Yorker sind nun acht Autoren unter 40 zu entdecken (die anderen zwölf erscheinen in den nächsten Ausgaben). Einige sind schon etabliert, andere stehen noch vor ihren ersten Veröffentlichungen. Während der 99er Jahrgang auf dem Höhepunkt der High-Tech-Euphorie erschien, liegen 10 Jahre später zwei Börsencrashs, der 11. September und die Wahl Barack Obamas hinter uns. Das macht sich in den Texten bemerkbar.
Joshua Ferris, The Pilot: Hier geht es nicht um Flugzeuge, sondern um Fernsehserien. Lawrence, ein nur mäßig erfolgreicher Drehbuchschreiber erhält per Mail eine Party-Einladung von Kate Lotvelt. Kate hat die Sensations-Serie „Death in the Familiy“ konzipiert, in der pro Folge ein Familienmitglied stirbt, um dann in der nächsten Folge wieder aufzuerstehen. Lawrence befürchtet, er habe die Einladung nur zufällig zu erhalten. Aber um seine Karriere zu befördern, begibt er sich nach langem Zögern verhängnisvoller Weise doch auf die Party. Joshua Ferris, der Autor dieser bissigen Satire kennt den Hollywood-Jargon, er hat ein Ohr für Dialoge und Pointen. Irgendwo zwischen Evelyn Waughs „Death in Hollywood“ und Billy Wilders „Sunset Boulevard“ angesiedelt, im gut versteckten Kern aber doch ziemlich sentimental.
Jonathan Safran Foer, Here we aren’t, so quickly: Dies ist ein raffinierter Text, der auch beim zweiten Lesen Vergnügen bereitet. Er besteht überwiegend aus kurzen Sätzen, die scheinbar wahllos aufeinander folgen. In vielen wird etwas verneint, was dem Text eine diffuse Unwirklichkeit verleiht. So fängt er an: „Gesichter konnte ich nicht gut zeichnen. Meistens machte ich Witze. …Ich war so spät, weil ich Blumen besorgen wollte…Ich konnte keinen Toast ohne das Radio machen…Ich war nicht so müde, wie ich behauptet hatte.“ Nach einer Weile, so etwa ab dem fünften Absatz, wächst die Vermutung, dass hier ein Mann zu seiner Frau spricht, später scheint es aber auch das gemeinsame Kind zu sein. „Wenn du niemanden anschriest, sang ich dir etwas vor.“ Aus „I and You“ ist ein „We“ geworden. Versicherungen werden erwähnt, Reisen, der Müll des Nachbarn. „Wir hatten Sex, um Orgasmen zu haben.“ Aber immer werden die Verluste verzeichnet, das was man noch nicht oder nicht mehr ist. Über das Alltägliche zu schreiben, ohne banal zu werden, ist schwer. Ein gelungener Versuch.
Philipp Meyer, What you do out here, when you’re alone. Es gibt zwei große amerikanische Epen der letzten Jahre: John Updikes Rabbit-Saga, die von einem Autohändler handelt und in ihrer Beschreibungskraft den amerikanischen Alltag feiert, und Richard Fords Frank Bascombe-Bücher, in denen das Innenleben eines ehemaligen Sportreporter und Immobilienmaklers seziert wird. Wenn Philipp Meyer uns nun einen Porsche-Händler vorstellt, der etwas unglücklich von der Terrasse seines zu großen Hauses in Texas aus die Nachbarin beobachtet, ist das für Leser von Updike, Ford und Cheever vielleicht doch etwas zu viel Déjà vu. Aber zum Schluss entkommt die Hauptfigur von Meyers Erzählung zumindest in ihren Träumen dem selbstgeschaffenen Gefängnis und eine neue Geschichte könnte beginnen.
Rivka Galchen, The entire northern side was covered with fire. Rivka Galchen hat einen vielbeachteten Debütroman veröffentlicht, in der ein Mann von einem Tag auf den anderen seine Frau nicht mehr wiedererkennt. Ähnlich verschroben und seltsam diese Geschichte. Die schwangere Hauptfigur verhandelt gerade über die Verfilmung ihres Erstlingsromans, als ihr Mann sie verlässt, der das offenbar in einem Blog angekündigt hat, das wiederum sie nicht liest, aber alle ihre Verwandten und Freunde. Stattdessen druckt sie Beschreibungen des Tunguska-Ereignisses aus dem „schrecklichen Internet“ aus und beschäftigt sich mit Kants Begriff des Erhabenen. Hier scheint jemand, ohne es zu bemerken, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Eine eigenartig kühle Art vom Untergang der Welt zu erzählen.
Gary Shteyngart, Lenny hearts Eunice. Von allen Geschichten in diesem Heft die bei weitem komischste. Lenny Abramov ist wie so viele amerikanische Helden Vertreter: er verkauft die ewige Jugend, nämlich teure Hormon-Behandlungen, die den Alterungsprozess verlangsamen. Dabei ist er allerdings so erfolglos, dass er weit davon entfernt ist, sich diese Behandlung selbst leisten zu können. Und Geld allein genügt nicht, um als Kunde hierfür in Frage zu kommen: die Einstellung muss auch stimmen. Als altmodischer Mensch, der noch Bücher liest und nicht nur „streams“ konsumiert, steht Lenny kurz vor der Entlassung. Aber dann trifft er Eunice in Rom, die ihm zunächst beibringt, wie man eine Zahnbürste richtig benutzt. Wenn Sheyngarts Romane so lustig sind wie diese Satire, ist er der richtige Autor für sehr lange Interkontinentalflüge.
Z.Z. Packer, Dayward: Manche Texte schaffen es, vom ersten Satz an in ihren Bann zu schlagen. Z.Z. Packer ist eine solche Autorin. Die ersten Absätze ihres Textes beschreiben, wie zwei Kinder vor einer Horde sie verfolgender Hunde fliehen. Erst später erfahren wir, dass es sich um die Kinder freigelassener Sklaven handelt, die von ihrer ehemaligen Ausbeuterin aus Rachsucht verfolgt werden. Bei diesem Text scheint es sich nicht um eine Kurzgeschichte zu handeln, sondern um einen Romananfang. Wir erleben noch wie die beiden Kinder den Hunden entkommen (dafür opfert der Junge seine Hand) und sich auf den Weg nach New Orleans machen. Die „Night-of-the-hunter“-Atmosphäre des Beginns weicht dem historischen Epos.
Salvatore Scibona: The Kid. Ein Kind steht allein in Hamburg-Fuhlsbüttel am Flughafen. Und am Ende von Scibonas Geschichte wissen wir, wie er ausgerechnet nach Hamburg gekommen ist, nicht aber, was aus ihm geworden ist. Dafür haben wir seinen Vater und seine Mutter kennengelernt, einen amerikanischen Soldaten und eine leichtsinnige Lettin. Außerdem wird viel geflogen. Warum die Menschen in dieser Geschichte so handeln wie sie handeln, bleibt offen. Sehr modern und ein wenig unbefriedigend.
C.E. Morgan: Twins. Hier dagegen überwiegt auf ganz altmodische Weise Atmosphäre. Zwei Zwillinge wachsen in den 80er Jahren in einem eher berüchtigten Stadtteil von Cincinatti auf, der Northside. Einer der Zwillinge ist weiß, der andere schwarz. Der weiße Vater ist mal da und wieder weg. Zum Schluß gehen die beiden Jungs heimlich allein zum ihnen versprochenen Northside Carnival, weil der Vater nach einigen Dosen Bier sein Versprechen nicht halten kann. Mehr ist nicht in dieser Erzählung, aber wir lernen eine Welt kennen, die uns sonst verschlossen geblieben wäre.
Im Herbst soll die Geschichtensammlung als Buch erscheinen.
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