Montag, 30. August 2010

GEORGE ORWELL REVISITED: SHOOTING AN ELEPHANT

1984 revisited – 
George Orwell wiedergelesen


von Morel






In Indien geboren, als das vergangene Jahrhundert noch jung war. Aufgewachsen im verregneten London, wohin seine Mutter mit der älteren Schwester zog, während der Vater sich als Kolonialbeamter weiter um die Opiumernte im Bundesstaat Bihar kümmerte. Lange blieb der Junge nicht bei seiner Mutter. Aufgrund seiner guten Leistungen kam er auf die Schulen der Oberschicht. Viele Jahre später konnte er darüber schreiben, wie Überlebende aus Kriegen, die er auch noch bis zur Neige kennenlernen sollte. Illusionen machte er sich keine, Zynismus blieb ihm Zeit seines Lebens fremd. Die Verachtung für die Arrivierten behielt er aber bei. Nach der Ausbildung ging er für die britische Kolonialpolizei nach Burma. Eines Tages sollte er einen Elefanten erschießen, der offenbar wild geworden war. Der zehn Jahre später geschriebene Bericht über diesen Tag ist ein knappes Psychogramm des Imperialismus, gleichzeitig einfühlsam und distanziert. Nachdem er den Dienst quittiert hatte, kehrte er nach Europa zurück. Mit Gelegenheitsjobs schlug er sich in Paris durch. Als Hopfenpflücker und Tellerwäscher lernte er die Unterseite der Gesellschaft kennen und seitdem war er Sozialist. Schwer krank kehrte er nach England zurück, seine angegriffene Gesundheit kostete ihm 1950, kurz nachdem seine bekanntesten Bücher erschienen waren, im Alter von nur 47 Jahren das Leben. In England war er eine Weile obdachlos und begann zu schreiben. Erste Bücher erschienen, journalistische, essayistische, es ist schwer zu sagen. Eigene Erlebnisse sind der Ausgangspunkt, um zum Allgemeinen zu kommen. Manchmal ist es nur ein winziges Detail, ein singender Vogel, die Gerüche in einer Arbeiterunterkunft, ein Soldat, der sich eine Hose hochzieht, die ihm Gelegenheit geben, seinen Standpunkt zu verdeutlichen. Es ist nicht in jedem Text derselbe. Gute Prosa ist wie ein Fensterglas, schrieb er einmal. 1937 durchschlug eine Kugel ihm den Hals. Das war in Spanien, wo er auf der Seite der trotzkistischen Arbeiterpartei für die Republik gegen die von deutschen und italienischen Faschisten unterstützte Armee kämpfte. Das demokratische Europa hielt sich zurück, in englischen Zeitungen waren viele Berichte über grauenvolle Massaker an schutzlosen Nonnen zu lesen. Wie es den militärisch nicht ausgebildeten Arbeitern ging, die sich für ihre gewählte Regierung einsetzten, interessierte weniger. Das hat er nicht vergessen. Wie so vieles nicht. Vergesslichkeit war keine seiner Stärken. Seine Seite war die Linke. Aber der Gegner stand nicht nur rechts. Viele Trotzkisten starben durch die Kugeln moskautreuer Kommunisten. Er entging diesem Schicksal knapp. In den nächsten Krieg ziehen musste er aufgrund seiner latenten Tuberkulose nicht. Er kämpfte an der Heimatfront, mit Arbeiten für die BBC. Auch dort hielt er es nicht lange aus. Wie eine österreichische Dichterin glaubte er, dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar sei. Über stalinistische Verbrechen schweigen wollte er genauso wenig wie über misslungene Kriegseinsätze. Je länger er lebte, desto weniger Anschlussmöglichkeiten an Parteien und Institutionen fand er. Er war ein Patriot, aber nicht konservativ. Er war Sozialist, verabscheute aber den Kadavergehorsam der orthodoxen Linken. Er war ein politischer Mensch, wollte aber Zeit seines Lebens nur ein Schriftsteller sein. Dass er später Listen mit pro-sowjetischen Intellektuellen für den britischen Geheimdienst zusammenstellte, geschah teils aus Überzeugung, teils als Gefälligkeit für eine wohl heimlich verehrte junge Frau. Sein politisches Vermächtnis schrieb er in zwei Romanen nieder, die vielleicht nicht unbedingt zu seinen gelungensten Werken zählten. Nachdem der Faschismus besiegt war, konnten sie auch ohne Schwierigkeiten jahrzehntelang zur Verbreitung vermeintlich westlicher Werte in den Schulen eingesetzt werden. Die CIA finanzierte in den 50er Jahren eine Zeichentrickverfilmung von Animal Farm. Dass ihm die ersten Ideen zu 1984 in der Kantine der BBC kamen, brauchte ja niemand zu wissen. Die vorgefertigten Meinungen und Hetzkampagnen unserer Tage hätte er verabscheut. Den ewigen Wettstreit mit Aldous Huxley, wer die zutreffende Untergangsvision verfasst hatte, schien er spätestens am 1. Januar 1985 verloren zu haben, nachdem im zurückliegenden Jahr nichts Schlimmeres passiert war als die Kießling-Affäre und die Wiederwahl Reagans. Aber vielleicht ist es auch anders gekommen und genau 1984 begann die Welt, von der er nicht müde wurde zu warnen. Bekanntlich ist es ja heute die Vernunft, die klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht blicken darf. Aufgefallen ist es ihm schon, als er über den spanischen Bürgerkrieg nachdachte. Die vielen Lügen, die beide Seiten über ihre Heldentaten verbreiteten, würde es Geschichtsschreibern schwer machen noch eine verbindliche Erzählung über diesen Krieg zu verfassen. Dass uns aus Jahrhunderten griechischer und römischer Geschichte nur zwei Sklaven bekannt geworden seien, erschreckte ihn. Diese Manipulation der Fakten bildet den Ursprung von 1984 und nicht der böse, uns alle beobachtende Big Brother. Blättert man durch seine Tagebücher, dann werden in späteren Jahren die politischen Einträge seltener. Immer öfter ist von Gartenarbeiten und dem Wetter die Rede. Als wäre die Bestellung des eigenen Gartens auch noch 200 Jahre nach ihrem Beginn das letzte Wort in der Geschichte der Aufklärung. Dass weder Bürokraten noch Diktatoren etwas daran ändern können, dass sich die Erde um die Sonne drehe und es Frühling wird, war ihm ja schon in einem berühmten Essay aufgefallen. Auch über den Niedergang des englischen Mords und die Qualität des englischen Essens, über Leihbüchereien und Schundliteratur, über Wochenmagazine für Jungen und den Schwanengesang des faschistischen Oktopus (sowie andere Verbrechen an der Sprache) hat George Orwell in einem makellosen Englisch geschrieben, das lebendiger klingt als mehrere Zentner aktueller Feuilleton-Prosa. Gut möglich das diese Essays noch gelesen werden, wenn die Nachrufe auf dieses Jahrhundert geschrieben werden. Eine kleine Auswahl ist bei Penguin erschienen: Shooting an elephant.

George Orwell: 1984  Penguin Books, € 7,30 (english)
George Orwell: 1984  Ullstein, € 9,95 (deutsch)
George Orwell: Shooting an elephant, Penguin Books, € 12,99 (english)



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