Samstag, 11. September 2010

ZUG UM ZUG (5): AUF DEM ABSTELLGLEIS (1994/95)

Das war dann ausrangiert. Auf ein Abstellgleis. Hat es sich weggestellt. War einmal ein Körper, der Ich war, der war nicht das Andere, war immer ich, das denkt. Hat sich nicht gehabt, sondern ist gewesen. So war das. Im Spiegel das nackte Abbild sah sie gern, sagt sich Du und Hallo. Ganz gewiss ist die sich, das Ich und Du eins sind und sich fühlen, das heißt die Zehen spreizen. Dann zerspringt. Der Spiegel und Du und Ich. Es wandelt sich in ein Gefäß, das versagt. Kann sich nicht lieben. Liebt nur noch das Andere, das ich nicht ist. Ein Wille versucht zu herrschen. Doch Du entziehst dich und es zerplatzt. Keine Scherben. Nur Blut und Tränen und Schleim und das Gefühl. Das Ich nicht ist.

Das ging noch einmal gut. Ein Knabe lag in ihren Armen. Verwundet zwar. Schwer keuchend, fast erstickt. Sie hält ihn fest. Hält sich fest an dem. Der Kopf denkt. Die Brust tropft. Der Mund küsst. Die Hand hält. Funktionsfähigkeit wird geprüft. Wiederherstellung des Systems. Infusion. Blutstillung. Nahtstelle. Wundbrand. Vernarbung.

Der Zug rollt weiter. Es und Du und Ich und Knabe fahren mit. Wenn der trank an ihrer Brust, der kleine Mund um die Warze sich schloss und anfing saugte, rhythmisch und gewiss, dann fühlte sie sich. Im Erker saß sie, auf dem Schaukelstuhl, das Kind in den Armen, wiegte sich und den und Ich und Du. Die Blätter am Baum vor dem Fenster wuchsen  grün sich aus und glänzten silbrig in der Sonne und wehten im Wind und fielen golden zu Boden. Mit ihr. Am Boden lag sie und auf ihr der Knabe, den Kopf zur Seite gelegt, ihr Mund in seinem spärlichen Haar. Wer bin ich? Ich bin, die dich liebt. Und im Herbst, als die Bäume sich rot färbten vor dem Fenster, an dem sie im Schaukelstuhl saß und sich wiegte und den Knaben, regte sich in ihrem Leib eine zweite Frucht und eine Furcht. Der Zug rollt. Stell dich taub.  Die Wunde „heilt der Speer nur, der sie schlug.“ Im Tunnel.

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