Freitag, 15. Oktober 2010

GEGEN BERLIN IST FRANKFURT EIN DORF

Berlin, die Wohnung in der Erich-Weinert-Straße, mit der Tram zum Alex, der Markt vor der Gethsemane-Kirche, die kleinen Boutiquen in den Seitenstraße zur Kastanienallee, der in der Kälte verwaiste Prater, wo ich so viele Mal mit dem Freund beim Bier gesessen und über den Kunstbetrieb gelästert habe. Ich kenne diese Straßenzüge, ich bin sie mit dem Rad gefahren, alleine oder auf dem Gepäckträger (damals noch nicht im Damensitz, denn selten trug ich zu der Zeit Röcke); bei den letzten Besuchen aber wohnte T. schon nicht mehr hier in Berlin. Ich lernte stattdessen Pankow kennen, wohin E. 2006 zog, das Bonzenviertel der alten DDR und war erstaunt, wie schlicht und gutbürgerlich das war, ich erlebte bei den folgenden Malen, wie es sich „mauserte“, gentrifizierte, sagt man wohl, eine nach der anderen der alten Villen und Botschaften modernisiert, hell gefärbt und aufgehübscht wurden, dem Einheitsgeschmack westdeutscher Oberschicht entsprechend. Draußen in Biesdorf, ganz weit im alten Osten, wohin es einen anderen alten Kindheitsfreund später verschlug, blieb es dagegen kleinbürgerlich dörflich. Es gibt bis heute „Alteingesessene“ und „Zugereiste“ wie daheim in dem Kaff, aus dem ich komme. Nur dass in Biesdorf die Zugereisten Wessis sind und immer wieder ein vorwurfsvoller Unterton mitschwingt, beim Friseur oder Bäcker,  als habe man als Wessi einen persönlichen Anteil an nahezu jedem Missgeschick, das seit 1989 die Alteingesessenen getroffen hat. Aber vielleicht ist die Wahrnehmung dieses Tons nur eine Projektion meines Unbehagens an gleichermaßen Ostalgie und westdeutscher „Hopplahierkommichundkaufmalgleich“-Attitüde, die das eigene Verhalten und jedes Wort bei Kaffee und Kuchen unter Verdacht stellt.

Beute: ein Regenhut
Diesmal ist alles ganz anders. Ich laufe zum ersten Mal durch diese Stadt, als sähe  ich sie mit Annes Augen. Anne/Armgard (Melusine featuring Armgard), die nach ihrer Rückkehr aus Chicago, wie ich mir vorstelle, hier lebte Anfang des Jahrtausends. Für Anne sind es Straßen, die sie mit zwei Jungs an der Hand durchgequert; ich betrachte Schuleingänge und Pausenhöfe, Kinderläden und frage mich: Könnte das Carls Schule gewesen sein? Brachte sie Daniel in diese Kita? Sie trommelte nicht in diesen Jahren. Soviel ist klar. Doch vielleicht stand sie, wie wir gestern, vor diesem kleinen Laden für internationale Musikinstrumente in der Kastanienallee, stieß die Tür auf und atmete den Duft von Patschouli (ich frage mich, ob sie ihn so abstoßend empfand wie ich, so sehr verbunden mit der sogenannten Friedensbewegung und seltsamen Treffen im Dämmerlicht mit Frauen in bodenlangen Gewändern, das Peace-Zeichen auf der Stirn, immer so sanft, dass es  unwillkürlich Aggressionen erzeugte). Hatte Anne auch die kleine Ziehharmonika im Fenster angezogen, die vielleicht Daniel, ihr Jüngster, hätte spielen können? (Aber spielt Daniel, der vielseitig Begabte, nicht Gitarre?) Ich jedenfalls überlegte gestern, diese schildplattgrüne Ziehharmonika für meinen Neffen als Geburtstagsgeschenk zu kaufen, konnte mich aber doch nicht entschließen. Azar dagegen erstand eine winzige, daumennagelgroße Mundharmonika, die immerhin 4 Töne hervorbringt, an einer Kette und auch eine Stimmpfeife. Azar aber spielt kein Instrument; sie stimmt ihre Stimme mit der Pfeife. (Gerade rief ich hinüber in ihr Zimmer: Wie heißt das Ding, das du gekauft hast?) Noch räkelt  sich die Morgenlandprinzessin im Bett. Mit Azar reisen ist unter anderem deswegen so angenehm, weil wir beide morgens einen langen Anlauf brauchen. Das wird noch ein paar Stunden dauern, denke ich, auch heute, bis wir beide ausgehfähig sind. Auch ich werde mich jetzt noch einmal hinlegen und eine zweite Runde dösen. Bis dann. In Berlin.

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