Mittwoch, 27. Oktober 2010

NACHRICHT AUS MOSKAU (Gegen den sozialistischen Realismus)

Im Mai hatte ich erstmals eine Nachricht aus Moskau erhalten, kryptisch, die weiterzuleiten sei an Heilmann, wie mir bedeutet wurde. Mein Verhältnis zu Heilmann zu bestimmen, war mir zu diesem Zeitpunkt gänzlich unmöglich. Wir waren einander, nachdem er mir im Februar den Weg durch die blaue Tür gewiesen hatte, auf seltsame Weise nahe gekommen und doch sehr fern geblieben. Der kleine bebrillte Mann, der so auffällig bemüht war, keinen Raum einzunehmen, wirkte dennoch stets eigentümlich bedrohlich auf mich. Was ich erlebt hatte hinter der blauen Tür, sog mich unwiderstehlich an. Zugleich erhob sich gegen das Wissen, das wie ein Blitz gelegentlich in Heilmanns traurig verschatteten Augen auffunkelte, wenn er die Brille abnahm und mich durchdringend kurzsichtig fixierte, heftigste Abwehr. Mein Gefühl sagte mir, dass ich notwendig nicht wissen müsse, um weiter den Weg durch die blaue Tür nehmen zu können. Melusine zu sein, offenbar, hing unmittelbar daran, an Heilmanns Tür zu glauben, also die Realität zu leugnen. Umgekehrt mussten Vorkehrungen getroffen werden, wie wieder hinauszukommen sei aus Heilmanns Laden. Denn Melusine, das darf man nicht vergessen, trug einen Fischschwanz. (Darum auch hatte Heilmann sich bei der ersten Begegnung so tief zu ihr hinab beugen müssen, weil sie diesen vor den neugierigen Blicken der Besucher durch eine über die vermeintlichen Beine gebreitete Wolldecke verbarg,  was bei einer Rollstuhlfahrerin im kühlen Februar nicht weiter auffiel. ---Doch von jener Begegnung ein andermal mehr.) 


Heilmann reagierte auf die erste Moskauer Nachricht gar nicht. Sie verstand das nicht, wiederholte die Meldung jedoch nie. Vielleicht, so dachte ich, war es ein Missverständnis, die Nachricht für ganz jemand anderen gedacht, weder gerichtet an Heilmann noch durch mich zu überbringen. Doch wiederholte sich das seltsame Geschehen. Die Verbindung zu Heilmann indessen war im Juni abgebrochen. Sie ließ es auf sich beruhen. Hoffte erneut, es wolle sich nur jemand lustig machen, denn es war nicht verborgen geblieben, dass Melusine mit Heilmann in Kontakt gestanden hatte. Auch Edith, gebe ich zu, hatte ich kurzzeitig in Verdacht.


Doch reißt, wie es scheint, die Moskauer Verbindung nicht ab. Seit Tagen rumort der Städtenamen in mir. Ich kramte Walter Benjamins „Moskauer Tagebuch“ aus dem Regal, las noch einmal Rainald Goetz´ Erzählung „Moskau“, durchstreifte die „Ästhetik des Widerstands“ nach Aufenthalten in Moskau. Und stieß schließlich zwingend auf Heilmanns Verdikt gegen den sozialistischen Realimus: „Der Kampf um unsere Kunst muss gleichzeitig ein Kampf um die Überwindung des Hangs zur Kleinbürgerlichkeit sein.“ Jedoch sprach Heilmann davon vor langer Zeit in Berlin. Dann traf gestern wieder eine Nachricht aus Moskau ein, weiterzuleiten erneut, wie es hieß, an Heilmann. Ein Bild diesmal nur. Unbegreiflich. Ich bin sicher, dies Bild zeigt keinen Moskauer Himmel. In den Formationen der Wolken bildet sich ab, was wir denken. Wer sagte das? 

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