Mittwoch, 1. Dezember 2010

UM HAARESBREITE (Die erste Begegnung mit Heilmann)


Wie sich Heilmann und Melusine begegneten, wollte ich erzählen, doch wenn ich versuche, mich dem Ereignis zu nähern, entgleitet es mir. Das ist kein Zufall. Man muss verstehen, dass Heilmann und Melusine hinter der blauen Tür immer schon beieinander waren. Sie fanden sich dort ein, um draußen, jenseits der Tür, auf den Boulevards von Paris, in Moskauer Hotels, an Londons Themse zufällig einen Arm zu streifen, einen Blick aufzufangen, zum Tanz aufzufordern. Es wäre leicht zu sagen, dass sie sich stets erkannten. Doch so war es nicht. Sie mussten sich einander genauso nähern, wie anderen auch. Was unterdessen schon da war, offenbarte sich unerwartet: eine Handbewegung, mit der Heilmann seine Brille rückte, die hilflose Art, in der Melusine über den Bürgersteig tappte, wie Heilmann die Lippen spitzte, Melusines Lispeln, wenn sie trotzig wurde.  

Was sie ahnten, kann ich nicht sagen. Ich wusste es plötzlich. Wie ein Überfall, kam die Erinnerung über mich, die keine war. Diesen Mann hatte ich noch nie gesehen. Doch der Schmerz in den Beinen meldete untrüglich an den Kopf: Er ist es. Wieder musste sie sich hinsetzen. Es ist klug, weiß sie, Begegnungen mit Heilmann so zu gestalten, dass sie sitzt, wenn er den Raum betritt. Nicht immer gelingt das. Manchmal steht sie an der Reling eines Schiffes. Die Wogen schlagen hoch gegen den Rumpf. Sie ersehnt die Berührung des Schaums auf den Wellenkronen und streckt die Hand aus, die von hinten unerwartet Heilmann ergreift. Er trägt einen weißen Anzug und einen bezaubernden Strohhut. Seine Nase beginnt zu bluten. Das helle Kleid wird beschmutzt. So ist es ausgemacht. Immer taten sie einander weh: „Eine merkwürdige Art jemanden zu Tode zu quälen: nicht Zoll für Zoll, sondern um den Bruchteil einer Haaresbreite, (...) mit einem Hoffnungsschimmer betrogen.“ Fast zwei Jahrzehnte später betritt sie schließlich einen Konzertsaal, als Heilmann in der Eingangstür auf seine Begleitung wartet. Ihr Rocksaum streift seine Hand. Mehr geschieht nicht. Erst nachdem die Musik begonnen hat, dreht sie sich nach ihm um.  "Beim Nachhausekommen findet sie irgendein Buch angefangen, aufgeschlagen im Regal liegengelassen, also hatte er hier in ihrem Zimmer gesessen, ihre Wohnung benutzt, mitunter aufgesehen zu den nassbeschlagenen Fensterausschnitten...“

Dieses Mal war es anders. Beide hatten sie das Gesetz gebrochen. Melusine hatte sich Armgard erschaffen. Oder war es umgekehrt? Ich erlaube mir kein Urteil. In Wahrheit borgte sie das vom dem alten Preußen, der tückisch die Melusine in eine jungfräuliche Witwe verwandelt hatte. Wie viel Angst hatte er wohl vor ihr, damals in Berlin und draußen am See, um diese Fälschung zu begehen? Der Lauf der  Martenehen ist von alters her festgelegt. Jemand muss den Preis zahlen: der Verrat, der Verlust der Kinder, das einsame Fauchen in der Nacht. Doch sie wollte bleiben, diesmal, hatte sie beschlossen. Der Plan schien aufzugehen: die Melusine im See versenken. Natürlich ist das alles gelogen. Der See war da, bevor sie kam. „Und Launen hat er, und man muss ihn studieren wie eine Frau. Dies kann er leiden und jenes nicht, und mitunter liegt das, was ihm schmeichelt und das, was ihn ärgert, keine Haaresbreite auseinander.“ Ich stand am Ufer im August 2009 und hörte den Gesang. Alles schien zu passen. Dennoch zögerte ich. Der märkische Sand dämpfte die Schritte. Wohin?  „Würde ich da gewinnen die Ruhe und Klarköpfigkeit, die mir abhanden gekommen waren in Berlin, da war ich also abgefahren mit nichts weiter als einem Wunsch, ich bereitete mich vor auf Enttäuschung.“


Wie beharrlich hatte ich darum gerungen: Schluss mit dem Geheule der Undinen, der verstockten Fischschwänzigkeit in den Tümpeln. Melusinen werden Mütter. Aber das Kind in ihr gibt keine Ruhe, verbündet sich mit einem Kindskopf, der den dunklen Ritter mimt. In der Nacht gelingt es ihr, ihm zu glauben, traut sie den albernen Schwüren. Doch Melusinen sollen nicht mit Kindern spielen und Armgard "muss treu sein wie Gold". Heilmann merkt es gleich, dass etwas aus der Ordnung ist, als er Ende Februar erscheint. Zuvor jedoch griff der Kindmann ihr durch die Brust direkt ans Herz. Die Wunde blutete nicht, aber sie blieb offen. „So weit war es mit ihr gekommen, dieser kindhaften Frau, dass sich die innre Sprache der Poesie nicht mehr vereinen ließ mit den äußeren Lebensformen, dass die Forderung nach absoluter Freiheit der Kunst zerbrechen musste an der Unerfüllbarkeit, die das Dasein diktierte.“

Heilmann beugte sich über den Ladentisch, als sie die Buchhandlung betrat. Falsch, so kann es nicht gewesen sein. Sie hatte vorgesorgt. Azar schob sie hinein. Das ging geradeso mit dem Rollstuhl durch Heilmanns Vordertür. Der Fischschwanz war sorgfältig unter einer karierten Decke verborgen. Heilmann sah kaum merklich auf. Melusines Hände zitterten. Diesmal hatte sie sich vorbereiten können. Es war Zufall oder Bestimmung; ich weiß es nicht. Sie bat Azar, sie in eine der hinteren Ecken des Ladens zu fahren. Die Prinzessin wollte sich weigern. „Da sieht er dich doch nicht. Willst du nicht mit ihm reden?“ Ich antwortete nicht, aber ich wusste: Er würde kommen. Er konnte nicht anders, obwohl unsere Blicke sich nicht trafen. Es dauerte eine Weile. Auch das hatte ich erwartet. Es gab im Grunde kaum etwas zu sagen. „Gefällt es Ihnen?“, fragte er und deutete auf das Buch in ihrem Schoß. „Ich habe es gelesen.“, antwortete sie. „Gelesen?“ „Ja, das gibt es wirklich.“ Er musste lachen. Dann schwiegen sie. Er lehnte sich an ein Regal. Eine Kundin betrat den Laden. Heilmann zuckte. Die Frau war schön. Heilmann war immer schon schönen Frauen verfallen. Darin lag kein Verbrechen. Doch diesmal war er zu weit gegangen. Wie Melusine bleiben wollte, so wollte Heilmann zeugen. Doch wer weiß, muss den Preis bezahlen. Verräter werden verraten. „Nein. Familie wollte er nie und war doch an die Familie gebunden.“ Die Mütter wiedersehen, davor sollte er sich hüten. Das wussten wir doch. Der Trauer können wir nicht entgehen. In deinen Augen habe ich mich erkannt. Das müssen wir niederschlagen. Schau mich nicht an. Geh mir aus den Augen.

Sie drehte an den Rädern und bewegte den Stuhl zum Ausgang. Heilmann hielt sie auf. „Ich muss Ihnen etwas zeigen.“, sagte er. Die blaue Tür. Je mehr ich weiß, desto mehr werde ich leiden. Die Prinzessin war verschwunden. Melusine sah sie erst später wieder vor Heilmanns Laden. Wie sie hinaus gekommen war, wusste sie nicht zu sagen, jedenfalls nicht durch den Vordereingang. Sie schlug die Decke zurück. Ihre Füße steckten in hochhackigen schwarzen Stiefeln. „Lass uns ein wenig die Oranienburger Straße hinunter laufen“, bat sie die Prinzessin und reichte ihr den Arm.

Zitate aus:
Emily Bronte: Stürmische Höhe
Alban Nikolai Herbst: Meere
Uwe Johnson: Mutmassungen über Jakob
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg
Peter Weiss: Ästhetik des Widerstands

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