Maria Dorothea Stechard, geboren 1765, die Tochter eines aus Thüringen eingewanderten Leinwebers, war Blumenverkäuferin in Göttingen. Als sie Georg Christoph Lichtenberg zum ersten Mal begegnete, war sie 12 Jahre alt. Kurz nach ihrer Konfirmation nahm der Professor Lichtenberg sie ganz zu sich. Fortan bis zu ihrem Tod lebte sie mit ihm in seiner Wohnung im Haus des Verlegers Dietrich. Im August 1782 starb sie.
Die Geschichte des Mädchens mit dem kleinwüchsigen, buckligen Physiker ist der Nachwelt vor allem in zwei Briefen überliefert, die dieser ein Vierteljahr nach ihrem Tod an den Philosophen Garve und an seinen alten Schulfreund Amelung schrieb. Männliche Leser dieser Briefe (unter ihnen Walter Benjamin) haben sich seit je das dort Erzählte zu einer beinahe romantischen Liebesgeschichte umgedeutet. Doch was Lichtenberg tatsächlich, sorgsam verteilt auf die beiden Briefe, gesteht und bereut, ist ein Fall von nur notdürftig verdeckter Kinderprostitution. Er wird, so schreibt er an Garve, „kaum ohne Tränen durch die Erzählung durchkommen können, aber Sie müssen wissen, bester Freund, ich hoffe, dadurch mich vor meinem Gewissen bey Ihnen von einer grosen Schuld Last zu befreyen.“ Lichtenberg hatte die kleine Blumenhändlerin getroffen, als drei Engländer ihr auf der Gasse unsittliche Anträge machten. Da nahm er sie, „um sie von diesem Handel abzuziehen“, beiseite und machte ihr seinen Vorschlag: „Ich sprach sie endlich allein, und bat sie, mich im Hause zu besuchen; sie gienge keinem Purschen auf die Stube sagte sie. Wie sie aber hörte, dass ich ein Professor wäre, kam sie an einem Nachmittage mit ihrer Mutter zu mir. Mit einem Wort, sie gab den Blumenhandel auf, und war den gantzen Tag bei mir.“
Es ging aus der Sicht des Mädchens und seiner Eltern um materielle Sicherheit und die Stellung im Hause eines Professors. Die wenigen Male, in denen durch die Sudelbuch-Eintragungen die eigene Stimme der jungen Stechardin zu hören ist, erzählen davon, wie sie darum ringt, sich im Hause des Professors zu behaupten. Erhobenen Hauptes weigerte sie sich, als Taufpatin neben einer Bediensteten zu stehen und klingelte vom Salon aus die Dienstboten herbei, die sie, die kleine Geliebte des Herrn Professor, warten ließen. In ihrem letzten Lebensjahr erinnerte sie Lichtenberg immer wieder an sein Versprechen, dass er sich „auch vor der Welt mit ihr verbinden wollte“. Das allerdings, was aus ihrer Sicht der gerechte Preis ihres Entgegenkommens war, drohte er seinen Standesgenossen gleichsam an: „Ich liebe das Mädchen, und fürwahr wenn es mir die Leute arg machen, so lasse ich sie mir antrauen, und dann mögen sie sprechen, was sie wollen.“ Bevor es dazu kam, starb sie.
Es ging aus der Sicht des Mädchens und seiner Eltern um materielle Sicherheit und die Stellung im Hause eines Professors. Die wenigen Male, in denen durch die Sudelbuch-Eintragungen die eigene Stimme der jungen Stechardin zu hören ist, erzählen davon, wie sie darum ringt, sich im Hause des Professors zu behaupten. Erhobenen Hauptes weigerte sie sich, als Taufpatin neben einer Bediensteten zu stehen und klingelte vom Salon aus die Dienstboten herbei, die sie, die kleine Geliebte des Herrn Professor, warten ließen. In ihrem letzten Lebensjahr erinnerte sie Lichtenberg immer wieder an sein Versprechen, dass er sich „auch vor der Welt mit ihr verbinden wollte“. Das allerdings, was aus ihrer Sicht der gerechte Preis ihres Entgegenkommens war, drohte er seinen Standesgenossen gleichsam an: „Ich liebe das Mädchen, und fürwahr wenn es mir die Leute arg machen, so lasse ich sie mir antrauen, und dann mögen sie sprechen, was sie wollen.“ Bevor es dazu kam, starb sie.
Der kleine, hoch begabte und sensible Mann litt unter seiner kümmerlichen Gestalt. Sich Frauen von gleichem Rang erotisch zu nähern, fiel ihm schwer, wiewohl einige ihn durchaus charmant fanden. Gleichzeitig war er getrieben von einer überdurchschnittlich aktiven Libido. In seinen heimlichen Sudel- und Tagebüchern hielt er über die Jahrzehnte in einer verschlüsselten Zeichensprache pedantisch Onanie, ehelichen und außerehelichen Geschlechtsverkehr fest. Da er sich an die bürgerlichen Frauen nicht herantraute, waren es Mägde, Aufwärterinnen und Blumenmädchen, mit denen er sexuell verkehrte. Die Kehrseite seines ausgelebten Begehrens war eine die Sudelbücher durchziehende Abwertung der gebildeten Frau. In Göttingen, wo er lehrte, begegnete er jenem Frauentyp, der in der Frühaufklärung kurzzeitig modisch wurde: die „Universitätsmamsellen“, wie er sie nannte, die Töchter seiner Kollegen: Meta Forkel, Philline Gatterer, Caroline Michaelis, Therese Heyne. Sie alle wurden durch ihre „natürlichen Erzieher“, die Väter, ausgebildet und in Lichtenbergs Augen „verbildet.“
Maria Dorothea Stechard musste, um für sein Erziehwerk zu taugen, die Tochter eines Vaters und einer Mutter sein, die selbst für Bildung nicht sorgen konnten, weil sie Mühe hatten, die Tochter zu ernähren. Lichtenberg wusste das auch genau: „Kein Mädchen schenkt ihr Herz weg, sie verkauft es entweder für Geld oder Ehre, oder vertauscht es gegen ein anderes, wobei sie Vorteil hat, oder doch zu haben glaubt.“ Er bildete sich die Jungfer Stechardin zur Gefährtin aus, lehrte sie seine physikalischen Apparate zu säubern und ihm bei seinen Experimenten zu assistieren. Nach Abschluss der „Ausbildung“ konnte sie ihm nun „Ratgeber, Freund, Handlungskompagnon, Bettkamerade, Spielsache, lustiger Bruder sein“. Es mag wohl sein, dass von seiner Seite aus Liebe wurde, was als Kaufakt begonnen hatte. Nicht einmal auszuschließen ist, dass auch sie ihm, der sie nicht nur sexuell benutzte, sondern aufrichtig an der Erweiterung ihres Horizontes interessiert war, liebevolle Gefühle entgegenbrachte.
Selbstporträt Lichtenbergs |
Doch erst posthum in den Briefen an Amelung und Garve wird aus dem „Katzen-Mädgen“, dass er sich für Bett und Labor gekauft hatte, eine „Himmlische“. Seine Trauer erst verleiht der Geschichte den Hauch romantischer Liebe. Anders als die „Genie-Poeten“ der Empfindsamkeit und später der Romantiker ringt Lichtenberg aber in diesen Briefen auch darum, dass Liebesempfinden an die konkrete Person, an Maria Dorothea Stechard, zu binden, statt es zu abstrahieren zur „reinen Liebe“. Es ist tragisch, dass er, der sich eine Liebesbeziehung vorstellen konnte und sie wohl auch zu verwirklichen suchte, die Freundschaft und Sexualität verband, sie aufgrund seiner Hemmung nur in einem Verhältnis zu leben vermochte, dass durch ein steiles Machtgefüge gekennzeichnet war: der bucklige Herr Professor und das arme, schöne Mädchen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen