Heute schruppen sie sich die gebeugten Knie wieder auf, gebückt und die Häupter gesenkt vor dem gefolterten Leib, der ans Kreuz geschlagen ist. Das Blut tropfte dem Leidenden von Händen und Füßen. Sein Gesicht ist zerfurcht von den stundenlangen Qualen in beißender Sonne. Die Söldner zu seinen Füßen machten sich ein Vergnügen daraus, ihm das Wasser zu verweigern, nachdem es ihn dürstete. Stattdessen ließen sie ihn Essig kosten. Die wenigen Getreuen, die geblieben waren, schlugen die Augen nieder und wagten es nicht länger, dem Schmerz und der Schande ins Angesicht zu sehen, die ihr Anführer beinahe klaglos erduldete. Allein seine Mutter und Maria Magdalena blickten zu ihm hinauf. Nur einmal, fast ganz zum Schluss, entfuhr ihm ein Aufschrei: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen.“
So berichten es Markus und Matthäus. Bei Lukas und Johannes fehlt dieser letzte Schrei des Gemarterten. Hier wird nur berichtet, er habe noch am Kreuz den Vater um Vergebung für seine Henker gebeten: „denn sie wissen nicht was sie tun“ und sei im Einverständnis mit seinem Schicksal verschieden: „Es ist vollbracht.“
So berichten es Markus und Matthäus. Bei Lukas und Johannes fehlt dieser letzte Schrei des Gemarterten. Hier wird nur berichtet, er habe noch am Kreuz den Vater um Vergebung für seine Henker gebeten: „denn sie wissen nicht was sie tun“ und sei im Einverständnis mit seinem Schicksal verschieden: „Es ist vollbracht.“
Was dort geschah auf Golgatha, hat das Christentum zu seinem Zentrum erklärt: die Folter und Qual des leiblich gewordenen Gottes am Kreuz. Nicht der Auferstandene und zum Himmelfahrende schmückt die christlichen Kirchen, Schulräume und Wohnzimmer, sondern der Gekreuzigte oder das Folterinstrument. Was für ein Glaube ist das, der das Leid und die Erniedrigung Gottes verherrlicht? Navid Kermani schrieb voll Abscheu vor zwei Jahren in der NZZ dagegen: „Für mich formuliere ich die Ablehnung der Kreuzestheologie drastischer: Gotteslästerung und Idolatrie.“ Man könnte noch weitergehen: Wer sich in diesem Symbol des Kreuzes wiederfindet, der muss doch entweder sich masochistisch mit dem Leiden identifizieren oder sadistisch mit dem Quälen. Navid Kermani ist seine ehrliche Entrüstung bekanntlich übel genommen worden von den Vertretern der christlichen Kirchen in Deutschland. Statt die Chance zu ergreifen, den Skandal zu erklären, den der christliche Glaube an den Tod und die Auferstehung Gottes bedeutet, haben sie Kermanis - für jeden Unbefangenen vollkommen nachvollziehbare Abwehr - gegen diese Verehrung der Folter zum Anlass genommen ihre eigene Inkompetenz und Intoleranz auszustellen.
Dabei hätte Kermanis Deutung des Gemäldes von Guido Reni Gelegenheit gegeben, sich mit dieser ungeheuerlichen Zumutung auseinanderzusetzen: Warum lässt Gott sich qualvoll töten? Wird durch den Glauben an das Kreuz der Schmerz, das Leid, die Erniedrigung verherrlicht, die Schwäche, die Feigheit, das Elend erhöht, damit man sich abfinde und beuge und gehorche? Auch Nietzsche hat sich empört von diesen christlichen „Munklern und Winkel-Falschmünzern“ abgewandt, die das „Elend als eine Auswahl und Auszeichnung Gottes“ verklärten: „Diese Werkstätte, wo man Ideale fabriziert – mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen.“ Wie kann jemand ernsthaft voraussetzen, es leuchte von selbst ein, dass der Allmächtige sich die Beschränkung der Leiblichkeit auferlegte (in Gestalt seines Sohnes) und es dann hinnahm, dass dieser Leib grausam gefoltert und gemordet wurde?
Vor der Kreuzigungsdarstellung Guido Renis, schreibt Kermani, sei ihm erstmals die christliche Kreuzesverehrung verständlich geworden. Denn Reni verkläre den Schmerz nicht, weil er ihn gar nicht zeige. Bei Reni sei das Leiden kein körperliches, sondern ein metaphysisches. Es fehlen in Renis Gemälde die Abzeichen der Striemen und Hiebe auf dem Körper. Renis Jesus ist schön, nicht zerquält. Er blutet nicht. Er hat die Augen nicht demütig niedergeschlagen, sondern fordernd zum Himmel gerichtet. Gott wird, schreibt Kermani, nicht entlastet, sondern angeklagt. Es geht nicht um den konkreten Tod dieses Leibes, sondern um die Sterblichkeit selbst. „Dieser Jesus ist nicht Sohn Gottes und nicht einmal sein Gesandter. Gerade weil sein Schmerz kein körperlicher ist, nicht Folge denkbar schlimmster, also ungewöhnlicher, unmenschlicher Folterungen, stirbt dieser Jesus stellvertretend für die Menschen, für alle Menschen, ist er jeder Tote, jederzeit, an jedem Ort. Sein Blick ist der letzte vor der Wiederauferstehung, auf die er nicht zu hoffen scheint.“ Mit dieser Deutung Narvid Kermanis hätte sich die christliche Theologie auseinandersetzen müssen und können. Sie ist ein – wie ich glaube an diesem Gemälde tatsächlich nachvollziehbarer – Versuch, den leiblichen Tod Gottes zu entskandalisieren. Gott kam nicht zu Tode, er wurde nicht an seinem sterblichen Leib geschunden, die Kreuzigungsszene ist unmittelbar transzendiert in die Frage nach der Endlichkeit des Lebens und der Unendlichkeit der göttlichen Macht. Renis Sicht auf den Gekreuzigten versöhnt Kermani.
Mir genügt sie nicht. Ich bleibe unversöhnt mit dem Tod Gottes, weil ich ihn als leiblichen Tod verstehe und ernst nehme. Gott hat die Last des Leibes in der Gestalt Jesus Christus auf sich genommen. Gott ließ sich töten. Der Tod ist wahrhaftig der Ort der Gottverlassenheit. Das leibliche Leben Jesu ist die Antwort auf das seit dem Sündenfall deutlich gewordene Unvermögen des Menschen ohne Schuld in Freiheit zu leben. Dass wir in Einheit weder mit der Natur noch mit unserer Erkenntnis zu leben vermögen, dass wir notwendig scheitern im Versuch uns einzufügen in die Schöpfung, wie bei dem, uns selbst in unseren Werken zu verwirklichen, stürzt uns in die Verschuldung, der wir nicht entkommen können. Der christliche Glaube antwortet auf dieses Verhängnis mit der schärfsten Zumutung: dem Tod Gottes. Dass Gott sich in allem Ernst und nicht nur symbolisch mit seinem Leib der Endlichkeit ausliefert, setzt uns endgültig frei: in eine gottlose Welt. In dieser Welt können wir leben, ungestraft, von nun an. Diese Freisetzung ist es, die den christlichen Glauben von den beiden anderen monotheistischen (Gehorsams-) Religionen unterscheidet.
Der Gott, der am Kreuz hängt, ist der Mensch: hilflos und bedürftig. Vor ihm muss man nicht das Knie beugen, den Kopf senken, die Hände falten. Die Herausforderung besteht in etwas anderem: dem Leid, dem Schmerz und der Vergänglichkeit ins Auge zu sehen. Das Osterwunder kann nur geschehen, wenn dieser Anblick ausgehalten wird. Es besteht im Glauben daran, dass der Tod nicht siegt. Die Auferstehung ist das Aufbegehren gegen den Tod. Und deshalb hat Nietzsche nicht recht: Die Demut vor den Bedürfnissen und der Bedürftigkeit des Leibes ist notwendige Voraussetzung, um sich gegen die Behauptung von der Notwendigkeit des Leidens zu erheben. Zwar wurde der christliche Glaube von der Macht missbraucht, um die Elenden zu beugen, doch besteht sein Kern in einem Aufstand gegen den Schmerz und die Vergänglichkeit.
und genau das , den "Aufstand gegen den Schmerz und die Vergänglichkeit" verurteilt Dostojewskis "Grossinquisitor" als häresie : Jesus , der für ein kurzes in menschengestalt auf die erde wiederkehrt , landet prompt in den fängen der inquisition . hart und klar fällt der monolog des grossinqusitors das urteil , christi brauche am jüngsten tag nicht auf die erde zu bemühen : der mensch sei per se nicht reif für die freiheit , welche die christliche teleologie verspricht. ergo muss die kirche ( ecclesia ) den menschen vor dieser freiheit "beschützen" -
AntwortenLöschenDas ist offensichtlich ihr Auftrag: die freigesetzten "Schäfchen" wieder einzufangen.
AntwortenLöschenVielen Dank, liebe Christiane, für den Verweis auf Dostojewski. Ich hatte nicht daran gedacht. Aber es passt genau.
Über solche Texte könnte ich fast wieder gläubig werden. Verführerin!
AntwortenLöschenEine Gnade, wenn man sich das aussuchen kann.
AntwortenLöschenKann ich nicht. Der Glaube ist Ausdruck meines Ungenügens und meiner Verzweiflung an mir selbst.
Der einzige Trost dazu ist: Ich könnte mir schlimmere Ausdrucksformen vorstellen. (Na ja..)
Aber missionarisch bin ich nicht unterwegs. Gar nicht.
Das kann sich niemand aussuchen, auch ich nicht. Ich habe da eine teils-teils-Haltung. Auf die Frage ihres Mannes, ob sie denn an Gott glaube, antwortet Merrit bekanntlich "Götz, willst Du mich verarschen?" und das ist k e i n "Nein" (es ist natürlich auch kein "ja").
AntwortenLöschenBin relativ protestantisch aufgewachsen, nicht fanatisch, keine Tischgebete oder so, aber doch auf eine verquetschte Art "gläubig". Mein Problem, das ich mit allen Religionen habe: Menschen, die sich als Gottes Sachwalter andienen, erklären mir, ich sei irgend einem Gott etwas schuldig. Schuld, Sünde, Züchtigung, bei solchen Wörtern grausts mir. "Dass Du lebst, ist Schuld". Dabei halte ich Menschen tatsächlich für schuldig, angesichts des blutigen Unsinns namens "Weltgeschichte", aber ich weiß nicht oder will nicht wissen, wie ich damit umgehen kann. Wäre ich gläubig (auch von meiner Seite besten dank, Christiane, für den Hinweis auf den Großinquisitor), nennte ich es "Abfall von Gott". Man kann es auch fehlendes Mitleid nennen (wenn ich von Mitleiden spreche, spreche ich von Schopenhauer, nicht von irgendwelchen dämlichen Dauerwerbesendungen am Samstag abend, in denen es um product placement geht und bei denen für die armen kleinen hungernden Afrikaner alsmal wieder 2 Euro sechsundfuchzig abfallen - Brosamen vom Tisch des reichen Mannes). Oder meinethalben, oh je, fehlende Empathie. Dass ständig im Mittelmeer Flüchtlinge ersaufen und sich hier, wo ich lebe, die große Mehrheit einen scheiss Dreck darum kümmert, nicht einmal die Fakten zur Kenntnis nimmt, bin ich bereit meine Schuld zu nennen in einem wie auch immer gearteten Rahmen. Na schön, bin ich halt Christ, mir egal.
Ergänzend (man kann leider nicht editieren): Wir sind also irgend einem Gott gar nichts schuldig, den Ersaufenden jedoch alles.
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