Sonntag, 23. Oktober 2011

DIE TRIVIALE KUNST (auf Zeitreise mit Neil Stephenson)


ein Beitrag von Morel

Drei Dinge galt es in der Scholastik zu lernen. Das Schreiben (oder die Grammatik), das Reden (oder die Rhetorik) und das Denken (oder die Dialektik). Wer alle drei beherrschte, Denken, Schreiben und Reden, hatte zumindest schon einmal die Grundlagen gelegt, um etwas Anständiges zu lernen: Fechten, Reiten, Kämpfen, Rechnen oder Regieren. Wer nichts anderes mehr lernen wollte, konnte sich wenigstens ein, zwei Jahrhunderte später am Romaneschreiben versuchen. Einer trivialen Kunst also, für die es nichts weiter brauchte, als Grammatik, Rhetorik und Dialektik.

Noch ein paar Jahrhunderte später hat sich auch das Romansystem wie jedes ausdifferenziert in E und U, Kunst- und Trivialliteratur, realistische und phantastische und tausende von Subgenres. Empirisch nachprüfbar ist Trivialliteratur solche, bei der die Anzahl der Amazon-Leserbesprechungen über der von Renzensionen in Buchmessen-Beilagen liegt. Bei ernsthafter Literatur ist es dagegen umgekehrt. Auch hier natürlich tausende von Grauschattierungen dazwischen. Andere Unterschiede sind dagegen subtiler. Die Literaturbeilagen-Literatur zeichnet sich in der Regel durch viel Aufmerksamkeit für Form und Sprache aus und manchmal ein Nichts an Inhalt. Ausnahme: es gibt Inhalt, aber er darf nicht ernst genommen werden, also Science-Fiction-Romane, die eigentlich etwas ganz anderes sein möchten. Die Büchertisch-Literatur dagegen hat soviel Inhalt (Spannung, Liebe, Wissen), dass es auf die Form nicht ankommt. Besonders reizvoll, nämlich zum Lachen zwingend, wird es immer dann, wenn die Grabbeltisch-Exploitation-Literatur im hohen Ton des Feuilletons gefeiert wird. Dann dürfen die Frauenverständigungsprosa und der Männerselbstfindungstripgedankenstrom auch schon einmal symptomatisch für den Spätkapitalismus sein. Aber am reizvollsten ist Literatur, die diese Unterschiede so durcheinandermischt, dass wir als Leser nicht wissen, wie uns geschieht.

So zum Beispiel bei Neil Stephenson. Jemand, der in nur zwei Jahren mit seinem Barock-Zyklus (Quicksilver, Confusion, The System of the World) mehrere tausend Seiten über Abenteuer, Kriege und wissenschaftliche Entdeckungen in der Zeit um 1700 publiziert, gehört fraglos nicht zu den Schriftstellern, die um jedes Wort ringen. Nur dank dem Grenzgänger Dietmar Dath ist Stephenson überhaupt im deutschen Feuilleton wahrgenommen worden. Trotz seines Volumens ist der Barock-Zyklus aber nichts für die schnelle Lektüre, denn es geht nicht so sehr um Eskapismus, sondern um Wissen. Ähnlich wie Thomas Pynchon erzählt Stephenson, literarisch nicht ganz so ambitioniert, aber ebenso packend, von der Entstehung einer Welt. Während Pynchon in Gegen den Tag an all das erinnert, was hätte sein können, an die Keime, die nicht aufgingen, also all die dem Untergang geweihten Utopien und Spinnereien von Fourier bis Jules Verne feiert, erzählt Stephenson von den Spinnereien, die eine Zukunft haben: Rechenmaschinen, Sklavenbefreiung und Banken („ein Komplott, ein gewaltiges Projekt zur Finanzierung der ewigen Narrheiten des Staates“).  Im Grunde wird hier also der gerade angeblich wieder einmal untergehende Liberalismus in all seinem Glanz und Schmutz geschildert. Am Ende aber geht es wie in jedem Roman darum, was der Mensch ist. Hier der letzte Abschnitt aus Quicksilver. Eine der Hauptfiguren, Sekretär der Royal Society, der ersten wissenschaftlichen Akademie, ist Daniel Waterhouse. Seine Freunde und Kollegen machen ihn betrunken, um ihm einen Blasenstein zu entfernen: „Als er, Hooke und Wilkins, während des Pestjahrs Hunde bei lebendigem Leib aufgeschnitten hatten, hatte Daniel in ihre gequälten braunen Augen geblickt und zu ermessen versucht, was in ihrem Bewusstsein vor sich ging. Am Ende war er zu dem Schluss gekommen, dass dort nichts vor sich ging, dass Hunde keinen Begriff von Vergangenheit oder Zukunft hatten, sondern einzig und allein im Hier und Jetzt lebten, und dass es dadurch noch schlimmer für sie war. Denn sie konnten weder ein Ende der Pein absehen, noch sich an Zeiten erinnern, da sie auf Wiesen Kaninchen gejagt hatten. Hooke nahm seine Klinge zur Hand und griff nach Daniel.“ Das ist nur ein Beispiel. Es wimmelt in Quicksilver von solchen Passagen, die trivial im besten Sinne des Wortes sind: voller Gedanken, Überzeugungen und Beobachtungen. Dazwischen gibt es auch Durststrecken, besonders für Leser, die sich nicht für Mathematik, Politik oder Finanzgeschäfte interessieren. Neben so gut wie allen gekrönten Häuptern der damaligen Zeit, kommen etwa Newton, Leibniz und William Penn, Alchimisten, Henker und Diplomaten vor. Aber die Hauptrolle spielt das 17. Jahrhundert.

Es gibt kein Zentrum, sondern viele Perspektiven, gerechtfertigt an mehr als einer Stelle mit Anspielungen auf die Monadenlehre von Leibniz. Aber eine der zentralen, alle Ebenen des Romans verbindenden Figuren ist die vom König der Landstreicher, Jack Shaftoe, aus einem Harem befreite Abenteuerin Eliza: sie befreundet sich mit Naturforschern, weiß dank Kenntnis des Kamasutra selbst dem aufgrund einer misslungenen Syphilisoperation gehandikapten Jack sexuelle Befriedigung zu verschaffen, spekuliert für französische Adlige an den Warenterminmärkten Amsterdams und wird von zwei Königen geadelt. In der Literaturbeilagenliteratur gibt es solche Frauen eher selten. Für Neil Stephenson zählt Quicksilver im Übrigen zum Genre der Science-Fiction: in der Tat, es ist eine Zeitreise in die Vorgeschichte unserer Zukunft.

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