Mittwoch, 19. Oktober 2011

ERLOSCHENE STERNE. (Über "Blutschneise", den neuen Roman von Guido Rohm)

Ein Beitrag von Morel




In dem 1959 geschriebenen Roman Getaway von Jim Thompson hören wir den Namen Max Vonderscheid zum ersten Mal. Der angeschossene Gangster Rudy Torrento redet mit ihm: „Bist du hier, Max?“ Aber Max ist nicht „hier“, sondern woanders: „Natürlich war er in Wirklichkeit allein: allein mit den schattigen Bäumen und den flüsternden Rinnsalen des halbtrockenen Flussbetts; allein mit sich und dem salzig-süßen Geruch seines Blutes. Doch in seiner Phantasie besaß er jetzt einen Begleiter und Helfer.“ Das ist Max Vonderscheid im Jahre 1959: die Erinnerung eines verletzten Gangsters an den einzigen Menschen, „den er je geliebt hatte“. Liebe ist eine Erinnerung, gegenwärtig bei Thompson ist nur der Geruch von Blut.

Nachdem zwei Filme – der 70er Jahre Klassiker von Sam Peckinpah mit Steve McQueen und Ali McGraw und das Remake mit Alec Baldwin und Kim Basinger - den unsichtbaren Max Vonderscheid naturgemäß nicht abbilden konnten, taucht er nun im Jahre 2011 wieder auf. In Blutschneise, dem neuen Roman von Guido Rohm, wird er uns im Prolog als Mann vorgestellt, der seinen Namen aus einem Roman gestohlen hatte. „Er ist ein Trick. Eine Mogelpackung. Also immer schön vorsichtig sein.“ Der neue Vonderscheid hat mit dem „Ganovenarzt“, der „niemanden abweisen konnte“ zunächst einmal nichts zu tun. In Rohms Roman ist er ein skrupelloser Killer. Ein Ex-Terrorist, der seine revolutionären Mitkämpfer, darunter auch seine erste Liebe Anna, verraten hat, um sich einer neuen Karriere als Killer und Handlanger eines Gangsterbosses zu widmen. Denn Vonderscheid hat nicht für seine Ideale getötet, sondern aus Lust am Töten. Dafür versetzt ihn Rohm schon im Prolog in eine Art Privathölle, in der er über sich selbst zu Gericht sitzt. Das Urteil aber werden wir Leser sprechen müssen.

Wir folgen nun Max Vonderscheid durch seine Welt, eine Welt angefüllt mit schnellem Sex und beiläufigem Tod, Fast Food und heruntergekommenen Absteigen. Sein neuester Auftrag: er soll für den Blinden, einem Gangsterboss, irgendeine junge Frau entführen. Sie soll hübsch sein und möglichst jung. Diese Frau ist als Ware bei einer Jagdhütte abzuliefern, wo drei perverse Millionäre sich am Wochenende mit Vergewaltigung, Folter und Mord vergnügen. In dieser Welt, die anders als bei Thompson ausschließlich über Angebot und Nachfrage geregelt wird, kann alles bestellt und jedes Problem eliminiert werden. Die tödlichste Waffe von allen aber ist Geld. Denn nur Geld kauft letztendlich Sicherheit. Polizei und Justiz sind hier abwesend. Wer zu wenig Geld hat, ist immer Opfer.

Wenn Max Vonderscheid nun seinen Auftrag abarbeitet wie ein Vertreter seine Kundenliste, liegt die Spannung weniger darin, ob eine Tat noch zu verhindern, ein Opfer noch zu retten wäre. Die Hoffnung darauf wird ein ums andere Mal enttäuscht. Dieses Buch lesen wir atemlos und gegen unseren Willen fasziniert, weil sich immer wieder die Frage stellt, wie diese Gewaltspirale an ihr Ende kommen soll. Die Opfer werden sich nicht wehren, weil sie falsche Vorstellungen haben. Sie träumen wie Susan, die von Max Vonderscheid entführte Ware, von Ruhm und wahrer Liebe in einer Welt, die all dies nur für Geld bereit stellt. Aber auch das richtige Bewusstsein hilft nicht viel. Guido Rohm selber, der Kriminalautor, begegnet den von ihm erfundenen Killern auf einer Wanderung. Ein böser Zufall, der tödlich endet. Es sind nur die Täter selbst die sich aufhalten können. Aber jede Tat hat Folgen, selbst die Ermordung eines perversen Kriminellen. Die Blutschneise ist also keine Befreiungsaktion, sondern nur die erste Ebene einer Spirale, die im Nichts zu enden droht.

Es gibt aber innerhalb dieser Spirale Momente der Ruhe, die vielleicht keinen Ausweg, aber die Möglichkeit eines anderen Lebens aufscheinen lassen. In den letzten Kapiteln seines Romans beschreibt Rohm nach der Täterspirale die Opfer. Hier gibt es auch ein Kapitel, das als Idylle geschrieben ist. Die Eltern eines Opfers von Vonderscheids Todestrip ziehen in einen mythischen Süden. Dort sind die Sterne noch zu sehen, die Max Vonderscheid ein Kapitel später vermisst (so genau schreibt Rohm und so genau will er auch gelesen werden). Will, der Vater bemerkt beiläufig, das Licht der Sterne stamme zum Teil von Sternen, die es überhaupt nicht mehr gebe. Selbst Max Vonderscheid, der sich in seinem Höllentribunal als geborener Mörder verdammt, hat dieses Licht einmal gesehen. In einer schäbigen Pension begegnet er Maya, einer Frau, die keine Angst vor ihm hat, sich aber auch keine Illusionen über ihn macht. Einen Moment lang erwägt er den Ausstieg, dann entscheidet er sich anders und auch Maya wird zum Opfer. Ein weiterer erloschener Stern, dessen Licht eine Weile in seiner Erinnerung aufscheint.

In Rohms Welt gibt es scheinbar nur Gegensätze wie Täter und Opfer, Männer und Frauen, Norden und Süden. Offensichtlich eine Welt voller Klischees. Und für hartgesottene Krimifreunde gibt es auch viel zu lachen. Das sollte aber nicht dazu verführen, nur auf die Klischees zu achten und nicht auf den, der sie arrangiert. Dieses Arrangement ist kein postmodernes Spiel der Unverbindlichkeit. Wie bei Tarantino ist die Liebe für das Material, aus dem Rohm seine Kriminalliteratur arrangiert, echt. Der „Trick“ Max Vonderscheids ist gerade nicht, dass er „nur“ eine Figur aus einem Roman ist, den die meisten Literaturfreunde eher mit spitzen Fingern anfassen würden. Eine „Mogelpackung“ ist er, weil er als Handelnder nichts ist als eine Marionette, wie alle in Blutschneise geschilderten „Täter“. Sie sind Klischees, weil sie sich gegen das Leben entschieden haben. Paradoxerweise könnte er nur mit der Entscheidung gegen die Tat wirklich werden. Wirklicher als die absurden Geschäfte von Gangstern und ihren Handlangern jedenfalls sind Erinnerungen und Romane wie Blutschneise. In ausweglosen Situationen hilft eben nur die Phantasie, wie schon Rudy Torrento wusste, der Killer aus Jim Thompsons Getaway.



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