Hype mag ich nicht – aber: Ehre, wem Ehre gebührt. An seinem 80. Geburtstag kann man ohne Übertreibung sagen, dass er nicht nur einer der bedeutendsten, sondern auch einer der modernsten lebenden Autoren in deutscher Sprache ist. Während wesentliche jüngere Autor:innen sich allzu gern auf traditionelle Erzählformen und Mittelstandprosathemen zurückziehen, war seine Neugier immer schon größer als deren beschränkter (medialer) Horizont. Während die literaturbetriebsamen Mittvierziger bis Mittfünfziger zuhauf larmoyant den Niedergang der Kultur beklagen und sich in sogenannten Urheberrechtsschutz-Initiativen gegen moderne literarische Formen wie Palimpset, Pastiche und Collage zusammenschließen, hält er unbeirrt an seiner phantastischen Dokumentaristik oder dokumentarischen Phantastik fest. Er weiß eben, dass einerseits die Realität tatsächlich gar nicht so arg begehrt wird und dass andererseits das Verlangen nach Originalität - mehr als 75 Jahre nachdem Walter Benjamin „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ schrieb - einfach nur blöd ist.
Als allgemein beklagt wurde, das deutsche Fernsehen als nationale Bildungsanstalt werde durch die Privatisierung zur Blödmaschine, nutzte er die Schlupflöcher im Staatsvertrag und sicherte sich mit dctp Sendezeiten, zu denen bis heute ein entwöhntes Publikum mit Intelligenz, Intensität und Skurillität konfrontiert wird. Er drehte die Filme, die Papas Kino töteten und endlich erzählten, in welchem Staat wir Deutschen nach 1945 angekommen waren: „Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos.“ Mit dem Freund und Soziologen Oskar Negt unterhielt er sich über Jahrzehnte immer wieder über Gott und die Welt und ließ uns in dicken Bänden an diesen vielschichtigen, amüsanten, traurigen, klugen, herzzerreißenden und vor allem optimistisch gegen jede falsche Wirklichkeit andenkenden Gesprächen teilnehmen. Statt die angebliche „Antiquiertheit des Menschen“ zu bejammern, bezeugten sie den Einfallsreichtum des „unterschätzten Menschen“ und ließen aus jeder Text-Vignette „Geschichte und Eigensinn“ funkeln. Alexander Kluge ist Rechtsanwalt, Philosoph, Drehbuchautor und Filmemacher.
Für mich allerdings ist er vor allem der Autor der „Chronik der Gefühle“, der Chronist der Lebensläufe, dieser vielen, vielfältigen, absonderlichen, wunderbaren, verstörenden Geschichten über Menschen, die nicht sind „wie du und ich“, sondern – anders. Ein Erzähler, der schon mit „Schlachtbeschreibung“ sich endgültig und ohne Bedauern vom Erzählen geschlossener Romanwerke verabschiedet hatte und stattdessen das Bedeutsame in den großen Zwängen und kleinen Zufällen, den heftigen Verwerfungen und dem beharrlichen Verharren, dem trüben Fischen und dem freien Strahlen entdeckte; ungebunden, asynchron, arbiträr, kontingent, doch unverzweifelt nach Orientierung suchend.
Ich stelle mir Alexander Kluge immer mit einer leuchtenden Helmlampe auf der Stirn vor, wie er vorsichtig, behutsam, tastend vordringt ins Bergwerk der Zeitläufte, Lebenspläne und Gefühlschroniken. Dabei ist er keiner, der die Ressourcen dort in der Tiefe effektiv ausbeutet. Kluge ist Forschungsreisender, kein Grubenbewirtschafter – und genau das unterscheidet ihn von vielen literarischen „Kolleg:innen“. Er birgt Einzelstücke, kleine Brocken, die sorgsam gereinigt und poliert werden.
Ich werbe: Lesen Sie die „Chronik der Gefühle“. Sie brauchen das!
„Was Menschen brauchen in Ihren Lebensläufen, ist ORIENTIERUNG. So wie Schiffe navigieren. Das ist die Funktion eines so umfangreichen Buches: dass einer vergleicht, sich abstößt oder sich anziehen lässt, weil ein Buch wie ein Spiegel funktioniert.
Niemand wird so viele Seiten auf einen Schlag lesen. Es genügt, wenn er wie bei einem Kalender oder eben einer CHRONIK, nachprüft, was ihn betrifft. Die subjektive Orientierung: Worauf kann ich vertrauen? Wie kann ich mich schützen? Was muss ich fürchten? Was hält freiwillige Taten zusammen? – das ist die zugrundeliegende Strömung, die sich durch Zeitablauf allein nicht ändert und die wahre Chronik bildet.“
Ich vertraue Alexander Kluge, seit vielen Jahren schon. Und ich wünsche ihm aus ganz egoistischen Gründen noch viele weitere und produktive Jahre.
sehr schön!
AntwortenLöschenDanke!
AntwortenLöschenDanke für die Huldigung! Habe etwas Gänsehaut.
AntwortenLöschenKluge fiel mir erstmals, damals drüben, mit seinem Halberstadt-Buch auf.
Dann die Filme: Abschied von gestern, Artisten in der Zirkuskuppel:ratlos, Deutschland im Herbst - alles sehr lange her.
Seine klugen Interviews, insbesondere mit Dirk Baecker, höre ich immer gerne.
Zuletzt las ich Das Labyrinth der zärtlichen Kraft - auch das ist Alexander Kluge.
Wenn ich mir den Wikipedia-Eintrag anschaue, dann bin ich einerseits ergriffen von der Werkliste (obwohl es nur eine Auswahl ist), andererseits wird der kurze Eintrag der Persönlichkeit überhaupt nicht gerecht.
Ja, Alexander Kluge stellt eine der Ausnahmen vor, wo einen die Person ebenso fasziniert wie die Texte. Wenigstens mir geht es so. Obwohl das "Ich" nicht vorkommt in den Texten, sind sie immer geprägt durch diese ganz persönliche Neugier, das Wissenwollen und Verstehenwollen eines Menschen, der sich nicht zufrieden gibt mit den eigenen (Vor-)Urteilen, auch denen über sich selbst. Im "Text und Kritik"-Band (dem neuen) ist ein schöner Text drin, indem Kluge beschreibt, wie er auch beim Schauen von Nazifilmen, die sein erwachsenes Ego als propagandistisch begreift, dem Jungen die Treue halten will, der die dort vorgeführte Beharrlichkeit bewunderte und den sie rührte. Das ist auch etwas, was ich an ihm schätze: Dass er die kindliche Rührung nicht schamhaft wegdrückt und denunziert, wie so viele "Linke", sondern auch in ihr das Potential der Gefühle entdeckt.
AntwortenLöschen"Das Labyrinth" ist bestellt. Und ich freue mich sehr drauf.
Kommt noch ein Einwand zu den Ebooks? Bin gespannt.
Auch ich habe bestellt: "Vom Nutzen ungelöster Probleme"...
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