Mittwoch, 19. Juni 2013

Spätvorstellung: LA CHINOISE (1967)


EIN BEITRAG VON MOREL



Wer hat gesagt, eine Frage würde automatisch auch eine Antwort mit einschließen? Nicht mal im Wörterbuch steht unter 'Frage', sie würde nach Antwort verlangen.

Jean-Luc Godard, 
Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos



Ende oder Anfang. Noch einen Film wird er drehen müssen, im annus mirabilis 1968, und das Kino ist zu Ende. Eine Serie von Filmen von Außer Atem bis Weekend, die das Kino bis zum Ermüdungsbruch dehnten. Am Ende von Weekend dann der Abspann, in den für Godard typischen farbigen Buchstaben: Fin du cinéma. 1967 drehte Jean-Luc Godard in einem Appartement in Paris La Chinoise einen Film, den er als Dokumentarfilm bezeichnete. In seinem Vortrag im Deutschen Filmmuseum, einer die Aufnahmefähigkeit des Publikums fröhlich überfordernden Salve von Assoziationen zu Trailern, Musikstücken und Affektbesetzungen, feierte Rembert Hüser unlängst die Aktualität von La Chinoise. Für ihn war es ein Anfang, für Godard der Beginn des Endes. Anfang oder Ende, vielleicht wie üblich  beides.

Zwei Studentinnen, drei Studenten in einem Appartement in Paris, das während des Sommerurlaubs der Eltern von Bekannten leer steht. Bürgerkinder proben die Revolution. Wände werden mit politischen Parolen bemalt. Die dominante Einrichtungsfarbe: Propaganda-Rot, wie die Stapel voller Mao-Bibeln, aus denen und in denen unaufhörlich gelesen wird. An den Wänden Poster und Porträts von Revolutionshelden. In einem separaten Raum eine Hall-of-Shame, in die auch das Bild von Novalis ausquartiert wird, wo es zu Descartes, Lyndon Johnson, Breschnew und Himmler (benannt 'Emmanuel Kant') gehängt wird. Die Rollen sind klar verteilt. Die militante Veronique (Anne  Wiazemsky, damals mit Godard zusammen) will die Sorbonne in die Luft sprengen. Guillaume (Jean-Pierre Léaud, benannt nach Goethes Wilhelm Meister) will das Theater erneuern. Yvonne (Juliet Bertot), als einzige Vertreterin der arbeitenden Klassen, sehen wir zumeist arbeiten, nämlich putzen und spülen. In kleinen Agitprop-Sketchen stellt sie das Opfer dar.  Die zwei anderen Studenten vertreten Varianten des Radikalismus: russischer Nihilismus, der im Selbstmord endet, und orthodoxer Marxismus, der ausgeschlossen wird. Die Revolution ist kein Galadiner.

Der Film, so Godard später, entstand im Schneideraum. Es gibt Interviews mit den Protagonisten, die direkt in die Kamera sprechen. Spielszenen wirken immer extrem künstlich, die Sätze wirken wie aufgeschrieben (und sind es in der Regel auch, meistens handelt es sich ja um Zitate). Dazwischen Gemälde und Stiche. Als Veronique zur Tat schreitet und einen sowjetischen Kulturfunktionär ermordet (im zweiten Anlauf, im ersten hat sie seine Zimmernummer falsch gelesen und jemand anders umgebracht), repräsentiert ein Bild aus einem Comic die Bluttat. Der Weg von hier führt weniger zur RAF als zu Tarantino (der weiß warum er seine Produktionsfirma nach einem Godardfilm benannt hat). Auch die Musik verhindert in La Chinoise Einfühlung. In Le Mepris oder Pierrot Le Fou gab die Musik den eindimensionalen, eher durch Handlungen oder Strukturen bestimmten Figuren, noch einen Anhauch von Tiefe und Schicksal. Hier werden nur kurze Ausschnitte von Musikstücken eingespielt: ein bisschen Schlagwerk aus einem Stockhausen-Stück, etwas Vivaldi-Barock im 'Fleischtheken-Sound' (Hüser) und ein absurder, extra für den Film geschriebener Popsong zu Ehren von Mao. Es regiert der Verfremdungseffekt: in einer Szene werden auf einer Tafel die Namen berühmter Schriftsteller ausgelöscht, nur Brecht bleibt stehen.

La Chinoise ist manchmal absurd, aber nicht unbedingt komisch. Nicht ernst genommen werden die politischen Diskussion innerhalb der Aden-Arabie-Zelle. Zumeist handelt es sich um den Austausch von Platitüden. Dass die Roten Garden, die sich Veronique als Vorbild nimmt, in China wirklichen Terror ausübten liegt im Off der Rezeption des Films in der postmodernen Filmwissenschaft. Godard aber ist offener, unsicherer, idiotischer: er dokumentiert seine Zeit, ihren Fanatismus (den er durchaus teilte), ihre Lächerlichkeit, ihre Fragen ohne Antworten. Meistens spielt der Film in der von der Außenwelt hermetisch abgedichteten, leer geräumten Wohnung, in der die Aden-Arabie-Zelle die Revolution vorzubereiten sucht. Hüser beschränkte sich in seinem Vortrag sehr geistreich auf die Ausstattung dieses Zufluchtsort vor der Wirklichkeit: die Farben, die Musik, die Montage. Darin weist der Film tatsächlich voraus auf deine Zukunft des Essay-Films (die aber schon mit Resnais und Marker begonnen hatte). Einige Male aber verlassen wir diese hermetische Zelle, am nachdrücklichsten in der langen, in einer Einstellung gefilmten Zugfahrt von Veronique mit ihrem Professor, Francois Jeanson (der auch die Darstellerin von Veronique unterrichtete). Er stellt ihre Militanz in Frage mit dem wenig originellen, aber unabweisbaren Gegenargument, was denn nach der Zerstörung geschähe. Er kann sie nicht überzeugen. Wie Guillaume bevorzugt sie die "Stunde Null" (so heißt sein Theater nach Rosselinis Deutschland-Melodrama Germania Anno Zero) gegenüber der Veränderung des Bestehenden. Auslöschen, um noch einmal neu anzufangen. Das war die ästhetische Konsequenz, die Godard 1968 zog, bevor er dann Ende der 70er Jahre mit einem anderen Kino wiederkehrte.

Was dokumentiert La Chinoise? Beim besten Willen nicht die Politik des Jahres 1967 (selbst wenn der Film im Rückblick als prophetisch wahrgenommen wurde, unheimlich sich Ulrike Meinhof in der Bahnsequenz vorzustellen). Doch auch in La Chinoise ist es das Kino, das Godard die Kamera führt, nicht die rote Bibel oder die Marx-Engels-Gesamtausgabe. An einer Stelle wird an zwei Kinopioniere erinnert: die Brüder Goncourt und Georges Méiliès. Während die Goncourts, die einfahrende Züge und die Fabrik verlassende Arbeiter filmten, als Pioniere des Dokumentarfilms galten, filmte Méliès nur Erfundenes wie die Reise zum Mond. Aber er, so heißt es in La Chinoise, ist der eigentliche Dokumentarfilmer, denn die Goncourts filmten nur was ist aus dem Blickwinkel von Bürgern, Méliès aber auch, was sein wird. La Chinoise dokumentiert so wie Méliès dokumentiert: den künstlichen Nachbau von Ereignissen, die noch nicht stattgefunden haben. Die maoistischen Vorbilder für die Aden-Arabie-Zelle waren daher ziemlich sauer, als sie Godards Version ihrer Kämpfe sahen.

In einer Szene zwischen Veronique und Guillaume, wenn man will eine Liebesszene, sprechen die beiden aneinander vorbei blickend über das Leben und die Liebe. Er klagt, dass er nicht zwei Sachen auf einmal machen kann. Sie legt romantische Klaviermusik auf und erklärt ihm sachlich, warum sie ihn nicht liebt, unter anderem wegen der Farbe seines Sweaters. Er reagiert bestürzt. Also kann er doch, so Veronique, der romantischen Musik zuhören und den Sinn ihrer Worte verstehen. Zwei Sachen auf einmal, das ist für Godard bis heute die Montage, als Sprache des Kinos. Einer Sprache ohne feste Bedeutungen, die offen bleibt. Zu Ende geht mit La Chinoise für Godard der Film als persönlicher Ausdruck, als subjektive Form die Welt durch Montage so wiederzugeben, wie sie wirkt. Ab 1968 verschwindet der Autor, der auf jede Frage eine Antwort hat. An seine Stelle treten Gruppen und Paare, die nur selten einer Meinung und daher auf Montage angewiesen sind. In La Chinoise ist das nicht zu sehen, nur die Frage danach.

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