Freitag, 15. November 2013

KEIN IRRTUM ("Für mich ist es auch das erste Mal.")

"Er hat mich das wirklich gefragt: Haben Sie Orgien gefeiert in diesem Haus?" Die B. kicherte. Dr. L. stupste sie mit dem Finger an. Sie benahmen sich wie zwei kleine Luder. "Verdammt noch mal", dachte die L. Ich kann meine Hände einfach nicht von ihr lassen. Sie spazierten durch den Park, die Fontänen plätscherten, das Grün der Bäume schlug aus,   mit den Füßen kickten sie kleine Kieselsteine wie springlebendige Knaben. Die B. hakte sich bei der L. ein. Sie gab sich zutraulich. Die L. hätte sich das gern als Erfolg in der eigenen Gedankenbuchhaltung vermerkt. Doch war sie viel zu sehr damit beschäftigt, sich nicht zu eng an die B. zu schmiegen, nicht zu offensichtlich an deren Lippen zu hängen, sich nicht zu häufig durchs Haar zu streichen, den Impuls zu unterdrücken, noch alberner zu kichern.  

Körpersprache, sie hatte das ja nicht umsonst studiert, ist immer verräterisch. Sie überlegte, ob sie die Arme vor der Brust verschränken sollte, um sich heftiger gegen das Überströmen zu schützen, das die B. in ihr auslöste. Die B. wandte sich ihr zu, spielerisch drehte sie eine Locke der L. um ihren Finger. "Was", lachte sie, " wenn ich dich jetzt küssen würde?" Die L. wich zurück. Die B. sah traurig zu ihr auf: "Also nicht? Ich dachte..." Die L. versuchte sich zu erinnern: Wie sah eine professionelle Reaktion aus? Keine Liebesbeziehungen zwischen Patientin und Ärztin, das war eh klar. Aber: Das Vertrauensverhältnis schützen, so gut es möglich ist. "Sie wissen doch...", hob sie an, aber die B. schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab. "Lass die Floskeln. Mich interessiert das nicht. Ich bin nicht hier, weil ich Behandlung brauche. Schon gar nicht von euresgleichen." Die L. fühlte sich durch diese Worte auf eine Weise gekränkt, die ihr noch ganz unbekannt war. Sie wollte nachhaken, aber die M. sprach schon weiter: "Ich bin hier, um mich vor denen zu schützen. Hier drin können sie nicht...Hoffe ich..." Sie unterbrach sich selbst und winkte ab. "Das geht dich nichts an. Ich dachte nur...Ich hatte das Gefühl zwischen uns beiden..." Die L. erbleichte. Sie war schon einige Schritte hinter der B. zurückgeblieben und starrte sie nun an wie eine unbekannte Spezies. "Du weißt von nichts, nicht wahr?" Die B. schüttelte sich. Ihr Lachen klang jetzt bitter. "Das ist mir schon ewig nicht mehr passiert. Im Grunde will mich jeder haben. Immerzu." Die L. biss sich auf die Lippen. Die B. war ein Vamp. Das stand ja auch in ihrer Akte. Nur in anderen Worten. Wissenschaftlicher. Die B. zog sich die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf. "Lass uns wieder reingehen. Es war offenbar ein Irrtum." Die L. versuchte, sich zu fangen. Sie zog die Schultern hoch und zusammen. "Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe." Die B. beschleunigte ihre Schritte und murmelte etwas in ihre Kapuze. "Bitte", rief die L. ihr nach, die nur mühsam mithalten konnte. Sie bekam einen Zipfel von der Jacke der M. zu fassen. "Bitte, warten Sie." Die B. drehte sich herum. Ihre Gesichter waren nun nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. "Immer noch per Sie, Frau Dr. L.?" Die L. zog die Luft ein. Ihre Arme hingen wie schlaffe Seile an ihren Seiten herab. Sie zwang sich, den Blick nicht zu senken und der B. standzuhalten. Deine Augen so blau. Die B. lächelte. Wehmütig. "Ich hätte es mir sehr gewünscht." Die L. brachte immer noch nichts anderes als "Bitte" heraus. Die B. wollte sich wieder abwenden und weitergehen. Doch jetzt hielt es die L. nicht mehr. "Ich liebe dich." Sie hatte das noch niemals gesagt. Zu keinem Menschen. Nicht zu ihrer Mutter. Nicht zu ihrem Vater. Nicht zu irgendeinem ihrer Bettgenossen. Sie war auch absolut straight. Hetero von den lackierten Fingernägeln bis zu den wachsweich gepflegten Fersen. Gewesen. Gewesen. Bis die B. aufgetaucht war. "Schwäne können nicht tanzen." "Ich auch.", sagte die B., als könne sie Gedanken lesen. "Für mich ist es auch das erste Mal." Die L. senkte ihren Kopf ein wenig und die B. hob den ihren, bis ihre Lippen sich trafen. Das war noch ganz vorsichtig. Aber sie konnten auch anders. Wie sich dann zeigte. Die B. zog die L. unter das Dach des großen Anstaltsgebäudes und presste sie an die Wand. 

***

Die Vivipara beobachtete das Geschehen fasziniert und leicht angewidert auf dem Bildschirm. Das war in der Tat unerwartet. Man hatte die L. auch ausgewählt, weil sie Single und auf mehreren Partnerschaftsportalen angemeldet war. Heterosexuellen selbstverständlich. Das hier war neu und bedenklich. Die Vivipara zuckte die Schultern. Bedenkenswert. Daraus ließ sich etwas machen. Sie sah mit Spannung der nächsten Sitzung des Rates entgegen. Eine neue Eskalationsstufe. Möglicherweise. Ihre Aufgabe gefiel ihr zunehmend. Das Unvorhersehbare gewährte ihr Entscheidungsspielräume, die sie unter den Unmenschlichen nie zuvor gehabt hatte. 


Aus der Serie: FABELWESEN

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