Sie wäre strohblond und trüge das Haar streichholzkurz. Die Augen leuchteten meerblaugrün, wie die See im Sommergewitter. Hellhäutig wäre sie und dünnhäutig, leicht zu übersehen, aber nie zu überhören. Wenn alles vorbei wäre, schickte Astrid mir ein Band mit Bob Dylans "Just like a woman"; das träfe mich: "She makes love just like a woman but she breaks just like a little girl." Sie wäre versetzt worden oder hätte sich versetzen lassen, genau erführe ich das nie. Jemand hätte gesehen, wie wir uns umarmten in Astrids grünem CV5 auf dem Parkplatz hinter dem Schwimmbad.
Vor Astrid las ich Angélique (alle Bände), Simmel, ein wenig Hermann Hesse, auch Luise Rinser und was sonst so rumstand in der staubigen Gemeindebibliothek. Dann forderte sie uns auf, dieses dünne Buch anzuschaffen: "Abschied von den Eltern". Ich hasste den Ich-Erzähler: selbstgefällig, ignorant, verwöhnt, schimpfte ich ihn. Ein Reiche-Leute-Kind, das sich um sich selber drehte. Seine Not, sein Begehren, seine Hilflosigkeit schienen mir so belanglos angesichts des Zusammenbruchs der Zivilisation, von dem aus der schrieb. Warum sollte ich mich mit seinen Inzestträumen befassen? Wie ungerecht war der Ich-Erzähler seiner Mutter gegenüber, die zu retten versuchte, was zu retten war. Während der seine Träume analysierte, wurden die Arbeiterführer gefoltert. Im Unterricht knallte ich das Buch auf den Tisch. "So ein Schrott." Ich wollte über einen lesen, der begriff, was 1936 um ihn herum vorging. Der Widerstand organisierte, statt über Kunst zu theoretisieren. Astrid ließ mich toben. Nach der Stunde sprach sie mich an: "Die Ästhetik des Widerstands - Peter Weiss hat sie geschrieben. Den Gegenentwurf zum autobiografischen ´Abschied´." Verständnislos starrte ich sie an. Doch ging ich auf ihr Angebot ein, mit ihr hineinzulesen in das gigantische Werk.
"Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen und zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso...", las Astrid und ich fragte: "Was ist ein Torso?" Astrid hatte einen Katalog des Pergamonaltares da, den blätterte sie auf, zeigte und erklärte. Ich war gebannt:"....zottige Jagdhunde, die Mäuler verbissen in Lenden und Nacken, ein Fallender, mit dem Ansatz des Fingers zielend ins Auge der über ihm hängenden Bestie..." Sätze, die sich über ganze Seiten hinzogen, rhythmische Folgen, die hinter die Augen dringende Bilder erzeugten: "zu rohem Oval gespaltener Kopf". So ließ sich zeigen, was die litten, die nicht mächtig waren. Nie waren sie vollständig, immer stellten sich ihre Körper als versehrt heraus. Doch rangen die Götter mit ihnen. Ich staunte und lauschte. Zwischendurch stand Astrid auf, um in der Küche Tee zu kochen. Sie trug ein kurzes, sommerblumenes Kleid. Ich bemühte mich, nicht auf ihre zart gebräunten Beine zu starren. Als sie mit dem Tee in der getöpferten Kanne zurückkam, setzte sie sich mit übergeschlagenen Beinen zu mir auf den Boden. Wir lasen weiter, die Köpfe dicht aneinander gedrängt über dem Buch. Am Rand hatte Astrid Seite für Seite in ihrer krakligen Mädchenschrift Bemerkungen notiert. Viele Sätze waren unterstrichen: "Genuß vermittelte das Werk den Privilegierten, ein Abgetrenntsein unter strengem hierarchischem Gesetz ahnten die andern." Erstmals, so fühlte ich, öffnete sich hier "hohe Literatur" den Erfahrungen, von denen ich herkam. Unsere Knie berührten sich ganz leicht. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Ich wollte mich weder aufdrängen, noch wollte ich die zarte Verbindung auflösen. An der Tür verabschiedeten wir uns zögerlich. Keine wagte, einen Schritt weiter zu gehen, doch trafen wir eine Verabredung für den übernächsten Nachmittag.
Den ganzen Sommer hindurch lasen wir "Die Ästhetik des Widerstands", zu Beginn las nur Astrid vor, später versuchte auch ich mich an den gewundenen Sätzen. In ihrer Wohnung aßen wir von meiner Oma gebackenen Erdbeer-Rhabarer-Kuchen am graugestrichenen Tisch in ihrer winzigen Küche, später saßen wir auf dem schmalen Balkon, der in den Hinterhof hinausging, und rauchten Marihuana. Ich genoss die Sommertage wie einen flüchtigen Traum, von dem man weiß, dass er im Morgengrau zerbirst, den man aber bis zum letzten Augenblick auskosten will. Was sah Astrid, die sieben Jahre Ältere, in mir, dem 17jährigen Mädchen? Ich ahnte es nicht. Sie sprach mit mir, als gäbe es den Altersunterschied nicht. Heftig konnten wir aneinander geraten. Sie wollte mich überzeugen, dass im anderen deutschen Staat verwirklicht werde, was wir ersehnten. Doch Weiss war nach Stockholm ausgewichen. Das schien mir wichtig. "Das Eigentum an den Produktionsmitteln ist nur ein Aspekt.", dozierte ich wie eine Alte. "Dem, der an der Maschine steht, Astrid, ist´s in dem Moment gleich, ob sie ihm gehört, wenn die Arbeit, die er zu tun hat, immer noch öde und entleerend ist. Verstehst du das nicht?" Sie schimpfte meine Sichtweise "unhistorisch". Ich sagte: "Wem´s den Rücken beugt, der will jetzt wissen, wie er sich aufrichten kann." Immerzu lag in der Luft, dass dieses unser letztes Treffen sein könnte. Keine Sekunde auch war ich mir nicht unserer Körper bewusst. Jede Stelle prickelte, von der ich annahm oder wahrnahm, dass ihr Blick sie erfasste. Immer wieder berührten wir uns wie zufällig und verharrten dann so, dass die Verbindung erhalten blieb: unsere kleinen Zehen unter dem Stuhl, unsere Ellenbogen auf dem Tisch, unsere Knie auf dem Boden.
An einem Freitagmittag hörte sie mich auf dem Weg zum Parkplatz fluchen, weil mein Fahrrad einen Platten hatte. Sie bot mir an, mich nach Hause zu fahren. Im Auto bat sie mich, ihre Brille aus dem Handschuhfach zu fischen. Ich wühlte zwischen Taschentüchern, Eiskratzer, Bonbonpapieren. Sie berührte mich leicht mit der Hand an der linken Schulter. "Sie liegt ganz rechts hinten im Eck." Statt nach der Brille zu schauen, drehte ich mich in ihre Armbeuge hinein. Mit beiden Händen umfing ich ihr Gesicht. Dein Mund so trocken, Astrid, deine Haut so sommersprossig, deine hellen Brauen küss ich gegen den Strich, so gleiten meine Lippen über dieses Land, so vertraut, so fremdartig. Deine Stirn, ganz leicht öffne ich den Mund, hinterlasse vier winzige Tropfen. Dann reißt sie mich herab. So ein Kuss, schon ist die Zunge ganz tief drin in mir und hinaus, schleicht um meine Lippen. Astrid. Astrid.
Irgendwer hätte uns dort im Auto gesehen. Ich wäre zum Direktor bestellt worden. "Da war nichts.", hätte ich gesagt. "Ich hatte Liebeskummer und habe mich bei Frau. H. ausgeheult. Sie hat mich nur getröstet." Ich weiß nicht, ob er mir geglaubt hätte. Im Flur hätte ich Astrid zum letzten Mal gesehen. "Sie haben mich doch nur in den Arm genommen, weil ich Liebeskummer hatte. Wir sind doch keine Lesben.", hätte ich gesagt. Am Tag danach hätte sie sich krank gemeldet. Danach wäre sie versetzt gewesen. Wenn sie versucht hätte, mich noch einmal anzurufen, hätte ich aufgelegt.
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