Teil I: Die Nachricht
Die Nachricht vom Tod ihres Vaters traf Vera unvorbereitet. Ungeübt im Abrufen von SMS auf dem Mobilfon fingerte sie herum, bis sie den Text lesen konnte: Bitte rufen Sie mich an. Dr. Klima. Klima vertrat ihren Vater in Tschechien. Tatsächlich war die Beziehung der beiden wohl enger als zwischen Klient und Anwalt; ihr Vater, erinnerte sie sich, nannte Klima „meinen besten jungen Freund“.
Wie eigenartig, dachte sie, als sie die Rückruftaste drückte, dass ich diesen „besten Freund meines Vaters“ noch nie getroffen habe. Klima kam sofort zum Punkt: „Ihr verehrter Vater ist heute Mittag beim Essen zusammengebrochen. Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, dass er auf der Fahrt ins Krankenhaus gestorben ist.“ Sein Deutsch war fehler-, jedoch nicht akzentfrei. Klima sprach in ihr Schweigen hinein weiter: „Er ist nicht noch einmal zu Bewusstsein gekommen. Er fühlte keine Schmerzen, offenbar. Er sah ruhig aus. Wenn Ihnen das ein Trost ist, Vera.“ Er sprach den Vornamen zögernd aus; sie kannten sich nicht. „Weiß mein Bruder schon Bescheid?“ „Ich habe Valentin eine SMS geschrieben, doch rief er noch nicht zurück.“ Sie schaute auf die Uhr. Es war viertel nach drei. „Dr. Klima...“, sie fühlte, es wäre angemessener gewesen, ihn auch beim Vornamen zu nennen, doch konnte sie sich an seinen einfach nicht erinnern. „Sagen Sie bitte Jan.“, half er. „Sie sind in Zlin, Jan? Wir werden versuchen, so schnell wie möglich zu kommen. Ich bin allerdings in Hamburg auf einer Tagung...“ „Sie sollten nach Wien fliegen, das geht schneller, als wenn Sie in Prag landen. Ich schaue gerade die Flüge nach... Ab Hamburg-Fuhlsbüttel 17.40 Uhr. Könnten Sie das schaffen? Sie wären dann um viertel nach sieben in Wien. Ich ließe sie abholen. Den Flug kann ich Ihnen von hier aus buchen.“ „Das ist sehr hilfreich, Dr. Kl...Jan. Machen wir es so. Ich melde mich, wenn ich mit meinem Bruder gesprochen habe.“
Mein Vater ist tot, dachte sie. Sie schaute sich in der Hotellobby um. Aus dem Tagungstrakt strömten die ersten Teilnehmer zur kleinen Kaffeepause, für die in einem Gang ein Buffet aus Kaffee und Tee, Stückchen und Obst aufgebaut war. Vera zog sich in einen anderen Teil der Lobby hinter eine Säule zurück. Sie wollte jetzt nicht von einem der Kollegen angesprochen werden. Mein Vater ist tot. Sie sah ihn vor sich: Übergewichtig, leicht vornüber gebeugt, meist mit diesem verschmitzten Lächeln, den Stock schwingend, „Verrrra, nicht so errrrnst. Verra Vewerka.“ Das hatte er lustig gefunden. Bei Valentin war ihm die Alliteration nicht ganz geglückt, aber auf den Spitznamen VauVau, den er seinem Sohn verschafft hatte, war er stolz gewesen. Ihr Mobile klingte: Valentin. Er rief aus Barcelona an. Dr. Klima hatte schon alles geregelt. Valentin war auf eine Maschine ganz früh am nächsten Morgen gebucht. Für Vera, sagte Valentin, habe Klima ein Hotelzimmer in Wien reserviert und morgen früh ließe er sie beide nach Zlin bringen. Einen Moment fühlte Vera so was wie Ärger in sich aufsteigen. Dieser Dr. Klima verfügte ganz einfach über sie. Dann überwog die Dankbarkeit. Sie hätte das jetzt nicht selbst organisieren wollen. Im Kopf machte sie eine To-Do-Liste: Ich muss die Redaktion benachrichtigen, dass sie jemand anderen zu der Tagung schicken. Ich muss Jochen anrufen. Ich muss meinen Koffer packen, auschecken und ein Taxi nach Fuhlsbüttel nehmen. Sie ging zum Lift, erledigte den ersten Anruf. Der zweite war schwieriger. Jochens Sekretärin konnte sie nicht durchstellen. Dr. Binse sei bei einer OP. Im Taxi nach Fuhlsbüttel rief er sie zurück. „Das tut mir so leidEr versprach mit Jana zu sprechen. „Und ihr beide kommt nach?“ Sie spürte sein Zögern, obwohl es nur kurz war. „Klar. Ich nehme den Wagen.“ „Bis dann, also“. „Vera, ich liebe dich. Ich würde dich jetzt gerne festhalten.“ „Ja.“
Alles ging reibungslos. Sie checkte ein; die Maschine startete pünktlich. In der Luft fiel ihr ein, dass sie in dem kleinen Koffer, den sie für die paar Tage nach Hamburg mitgenommen hatte, überhaupt nichts Schwarzes hatte. Jochen musste ihr das Kostüm und eine weiße Bluse aus Hannover mitbringen. Mein Vater ist tot. Wann hatte sie ihn zuletzt gesehen? War es tatsächlich anderthalb Jahre her? Ich werde überhaupt nicht merken, dass mein Vater tot ist. Ob er in Zlin herumläuft oder in einer Urne in der Wand steht, macht für mich keinen Unterschied. Sie erschrak über diesen Gedanken. Aber dann sagte sie sich: Es ist wahr. Auch wenn man es nicht sagen kann. Es ist wahr. Mein Vater hat in meinem Leben keine Rolle mehr gespielt.
Die Signallampen leuchteten. Die Maschine setzte zur Landung in Wien an. An der Gepäckausgabe ging es überraschend schnell. Kaum eine Viertelstunde später trat Vera durch das Gate in die Ankunftshalle. Sie sah das Schild sofort: eine weiße Papptafel, auf die mit roten Buchstaben: VERA VEVERKA geschrieben war. Sie musste lachen. Wie lange hatte sie das nicht mehr geschrieben gesehen. Dann versuchte sie ihre Miene zu beherrschen, schaute hoch von dem Schild ins Gesicht des Mannes, der es hielt. Er wirkte irritiert. Er hatte sie lachen sehen. Vera Veverka-Binse war lachend auf den Mann zugegangen, der sie zur Beerdigung ihres Vaters fahren sollte. Sie schämte sich. Er deutete einen Handkuss an: „Mein Beileid.“ Vera suchte seinen Blick: „Es war das Schild. Der Name. Mein Vater fand ihn so lustig.“ Er lächelte: „Das Eichhörnchen.“ Sie war erleichtert. Er verbeugte sich erneut: „Jan Klima. Ich bin selbst gekommen.“ Er nahm ihr den kleinen Koffer ab und steuerte sie am Ellbogen durch das Menschengewühl zum Ausgang. Als sie beide nebeneinander im Auto saßen, spürte sie, wie viel Sicherheit er ausstrahlte. Er steuerte den Wagen ruhig durch den Feierabendverkehr. Obwohl er schmal und sehnig war, fühlte sie sein Gewicht und seine Kraft. Die behaarte Hand auf dem Lenkrad wirkte fest und stark. Sie hatte lange nicht mehr die Präsenz eines Fremden so sehr gespürt, dass ein Schweigen nicht peinlich wirkte, sondern notwendig war. Er brach es erst, nachdem sie den Eindruck, den er ihr machte, hatte aufnehmen können. „Wir haben entschieden ein Kondolenzbuch im Erdgeschoss des Hauses auszulegen. Ich hoffe, das ist Ihnen recht. Sie können im 1. Stock ganz unbehelligt bleiben.“ „Ein Kondolenzbuch? Wozu?“, sie sagte das ganz spontan und bemerkte erst, als die Worte schon ausgesprochen waren, wie schroff sie wirkten. „Es kommen ununterbrochen Menschen, um ihre Anteilnahme zu zeigen. Wir müssen ihnen eine Form geben, diese zu zeigen.“ Sie ruderte zurück: „Sicher, wenn das in Tschechien so üblich ist.“ „Vera, ist Ihnen nicht bewusst, wie viel Ihr Vater den Menschen bedeutet hat? Sie wollen ihm und natürlich auch Jakub die Ehre erweisen.“ Vera erschrak: Vielleicht war dies alles ein furchtbarer Irrtum. Vielleicht war jemand ganz anderes gestorben, nicht ihr Vater und dieser Dr. Klima, der so kompetent wirkte, hatte eine schreckliche Konfusion angerichtet, indem er Valentin und sie benachrichtigte. Sie kannte keinen Jakub.
Milá Melusine,
AntwortenLöschenjsem velmi zvědavý!
Honza
Wann geht's weiter in der Erzählung?
AntwortenLöschenTolle Anfangssequenz. Mehr, mehr!
AntwortenLöschen@ Hans 1962 Das sollen Sie auch! :)
AntwortenLöschen@ Markus A. Hediger und Phyllis: Ich bemühe mich. Hoffe, dass ich den 2. Teil morgen einstellen kann. Heute - ganz klassisch - ist das Haus voll, um das Endspiel in großer Runde zu schauen (viele Spanier, d.h. ich halte vielleicht zu Holland :)) und selbstverständlich wird gegrillt. Daher wird´s heute wohl nichts mehr. Es sei denn, das angekündigte Gewitter fällt aus und ich kann - mal wieder - nicht schlafen...
Teil II: Die Schlacht
Teil II: Der Abschied
@MelusineB:
AntwortenLöschenSie hätten uns die Titel der nächsten Teile nicht verraten dürfen - jetzt ist die Ungeduld noch grösser!