"GAUDY NIGHT", Mylord!
(und ein Traum von riesenhaften Söhnen)
(und ein Traum von riesenhaften Söhnen)
"The bluestocking is the most odious character in society ... she sinks wherever she is placed, like the yolk of an egg, to the bottom, and carries the filth with her." William Hazlett
Ab London Paddington fährt alle halbe Stunde eine Zug nach Oxford, der „Geistesrepublik“, der „Insel auf der Insel“, wo die klügste Köpfe dachten, die originellsten Dichter dichteten, die schnellsten Ruderer ruderten und die witzigsten Spaßvögel scherzten. Hier studieren die Reichen, die Alteingesessenen und die Hochtalentierten. Wer hier studiert hat, der hat sein Auskommen und Einkommen, der ist wer und kennt wen. Erst ab 1878 gab es auch zwei Frauen-Colleges: Lady Margret Hall und Somerville, später kamen noch St. Hugh´s, St. Anne´s und St. Hilda´s hinzu. Vielen war das nicht recht. Die gelehrte Frau unterminiere das Gleichgewicht in der Familie, sie verweigere sich ihrer natürlichen Pflicht und werde dem Mann keine gute Gefährtin. Auch unterstellte man den "Bluestockings" sexuelle Probleme: Frigidität, Lesbentum (das galt als Problem!), erzwungene Enthaltsamkeit. Dass gebildete Frauen unbequem sein konnten, ließ sich so pathologisieren.
Eine, auf deren Spuren ich mich heute machen möchte, wurde hier geboren: Dorothy L. Sayers. Sie war eine der ersten Studentinnen am Somerville College. Ihre Heroine Harriet Vane lässt sie Absolventin des fiktiven Shrewsbury Colleges in Oxford sein. Über mehrere Romane entwickelt sich die Liebesgeschichte zwischen Harriet Vane und Lord Peter Wimsey. Sie begegnen sich zum ersten Mal in „Strong poison“. Harriet ist des Mordes an ihrem Geliebten angeklagt und Lord Peter, der an ihre Unschuld glaubt, rettet sie durch seine Ermittlung im letzten Moment vor dem Galgen. Vier Romane lang bietet er ihr seine Hand und sein Herz an, ohne erhört zu werden. Erst in Oxford entscheidet sich Harriet für Peter, in einem meiner Lieblingsliebesromane, weil es hier nicht um die romantische Frage geht: Liebst du mich?, sondern die viel ernstere: Können und wie können wir liebend miteinander leben? Harriets Überzeugung, dass es auf die zweite Frage keine Antwort geben könne, lässt sie die erste Frage schlicht verwerfen. Es ist kein Zufall, dass diese beiden „mittelalten“ Menschen in Oxford, wo sie denken lernten (Peter in Balliol), Wege zueinander entdecken: Weil eine bloß romantische Liebesprojektion zwei denkenden Menschen nicht genügen kann, sondern ihnen als Verrat am anderen und sich selbst erscheint. Sich wechselseitig nur als Objekt eigenen Begehrens wahrzunehmen, reicht nicht, um sich einzulassen.
Und doch begehren die sich und wird hier – was selten genug vorkommt – der begehrende Blick einer Frau auf einen Mann beschrieben:
„Im Ganzen betrachtet, als Fassade sozusagen, war es (sein Gesicht, M.B.) ihr inzwischen einigermaßen vertraut, aber jetzt nahm sie auch die Einzelheiten wahr, verdeutlicht wie durch ein Vergrößerungsglas in ihrem Geist. Die flach anliegende, schön geformte Ohrmuschel und die hohe Schädelwölbung darüber. Die schimmernden kurze Härchen, wo die Nackenmuskeln zum Kopf emporwuchsen. Eine kleine, sichelförmige Narbe an der linken Schläfe. Die feinen Lachfältchen im Augenwinkel und das an der Außenseite heruntergezogene Lid. Der goldglänzende Schimmer bis auf die Wangenknochen hinunter. Den weit geblähten Nasenflügel. Die unsichtbaren Schweißtröpfchen über der Oberlippe und einen winzigen Muskel, der seinen sensiblen Mundwinkel zucken ließ. Die leicht von der Sonne gerötete helle Haut und ihre plötzliche Weiße unterhalb des Halsansatzes. Die kleine Vertiefung über dem Schlüsselbein.
„Im Ganzen betrachtet, als Fassade sozusagen, war es (sein Gesicht, M.B.) ihr inzwischen einigermaßen vertraut, aber jetzt nahm sie auch die Einzelheiten wahr, verdeutlicht wie durch ein Vergrößerungsglas in ihrem Geist. Die flach anliegende, schön geformte Ohrmuschel und die hohe Schädelwölbung darüber. Die schimmernden kurze Härchen, wo die Nackenmuskeln zum Kopf emporwuchsen. Eine kleine, sichelförmige Narbe an der linken Schläfe. Die feinen Lachfältchen im Augenwinkel und das an der Außenseite heruntergezogene Lid. Der goldglänzende Schimmer bis auf die Wangenknochen hinunter. Den weit geblähten Nasenflügel. Die unsichtbaren Schweißtröpfchen über der Oberlippe und einen winzigen Muskel, der seinen sensiblen Mundwinkel zucken ließ. Die leicht von der Sonne gerötete helle Haut und ihre plötzliche Weiße unterhalb des Halsansatzes. Die kleine Vertiefung über dem Schlüsselbein.
Er sah auf und prompt wurde sie knallrot, als hätte man sie in siedendes Wasser getaucht. Durch den dunklen Schleier vor ihren Augen und das Pochen in ihren Ohren schien sich etwas Riesengroßes über sie zu beugen. Dann lichtete sich der Nebel. Sein Blick war wieder auf die Aufzeichnungen geheftet, doch er atmete, als ob er gerannt wäre.“
CU. In Oxford.
(23.00 Uhr GMT) "16.50 Uhr ab Paddington" - fuhr ich natürlich nicht. Dann wäre die Zeit zu kurz gewesen, um durch Oxford zu schlendern. Aber fast jeder Ort, die Bahnhöfe, die Plätze, Straßen, selbst die Kneipen in London tragen Namen, die mir schon als Literatur begegnet sind, Orte, an denen Holmes und Watson sich trafen, Mrs. Marple und Hercule Poirot einen Zug bestiegen, Lynley und Havers sich stritten, Lord Peter mit Harriet zu Abend aß...
Mit Oxford ist es ganz ähnlich. "Brideshead revisited" - wie sehr ich diesen Roman geliebt habe. Sebastian, den jede retten wollte und der doch nie zu retten war. Laurel und Hardy im Irrgarten - den suchten wir heute vergebens. Zuletzt: Joseph Reavley, dieser Held einer Krimis schreibenden Mörderin, die so seltsam altmodisch, so scheinbar "harmlos" schreibt. Und natürlich: mein Lieblings-Liebespaar: Harriet Vane und Lord Peter Wimsey. Wimsey, der in Balliol studierte, dem College der Intellektuellen, wie es heißt, das nicht - wie Christchurch - die künftigen Mächtigen anzieht (13 Premierminister!), sondern diejenigen, die denkend zweifeln und daher nicht einfach handeln können, die sich in Frage stellen und daher stets - scheinbar - ins Hintertreffen geraten. Wem nichts selbstverständlich ist, der wird zögern - und daher oft zögerlich und schwach wirken, was ein Irrtum sein kann. Ich vertraute mein Leben lieber einem an, der den ganzen Abend zurückhaltend in einer düsteren Ecke an der Wand lehnte, das Treiben reserviert beobachtend, als dem, der die Party mit seinem Überschwang in Gang hielte und jede verleitete. Ich bin vertrauensselig, schrieb ich bei tainted talents, ja, aber instinktiv vertraue ich nur dem, der mich tatsächlich behütet. Noch nie musste ich bereuen, wenn ich mich einem anvertraut habe (Jetzt klopf ich auf Holz, während ich das schreibe.)
Harriet dagegen - die einmal dem Falschen vertraut hatte, wie Dorothy Sayers schrieb - musste Vertrauen wieder erlernen. Peter Wimsey hatte die Geduld, deren es hierzu bedarf. Und Selbst-Vertrauen. Ohne das es auch nicht geht. Ich schrieb gestern, dass es die Gentlemen sind, nicht die HERREN, denen Frauen wie ich zuneigen. Das ist jedoch - Harriet wusste darum (bzw. Sayers ließ es sie wissen), deshalb zögerte sie solange, bis sie Wimseys Werben nachgab - auch nicht ohne Gefahr. Die Gentlemen, deren Bild am schönsten in der Gestalt Fitzwilliam Darcys gezeigt wird, sind - um es höflich zu formulieren - "zurückhaltend", anders ausgedrückt: Sie sind stur, verschlossen und bisweilen engstirnig. So großmütig und großzügig sie sind, wenn es darum geht, anderen zu helfen, zu geben und sich zu verpflichten, so karg und eng werden sie, wenn sie sich helfen lassen, wenn sie nehmen oder jemanden in die Pflicht nehmen sollen. (Davon ein andermal mehr: Der Zusammenhang zwischen dem Schweigen der Gentlemen und der Hysterie ihrer Frauen.)
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Meine Söhne waren beeindruckt von der alten Universitätsstadt. Ob sie hier studieren wollten? Na ja, man müsse wohl sehr fleißig oder sehr intelligent oder sehr reich sein...Das erste, sagte ich, habe man selbst in der Hand, mit dem zweiten seien sie gesegnet, wenn sie es nutzten, das dritte freilich (wir sind reich, nach den Maßstäben, die ich habe, wohlhabender als ich je erwartet hätte, nach den Maßstäben von Christchurch allerdings...)...
Als ich mit dem Jüngeren schwanger war, träumte ich einmal, ich stiege in London aus einem Zug und meine Söhne (ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht sicher, dass es wieder ein Junge werden würde) holten mich vom Bahnhof ab (es muss wohl St.Pancras gewesen sein, obwohl es damals den Eurostar, so weit ich mich erinnere, noch nicht gab). Ich war alt und weißhaarig und schaffte es kaum, meinen Koffer aus dem Abteil zu ziehen, doch an der Tür nahmen mich die beiden Riesen schon in Empfang. Der Ältere trug einen Trenchcoat, das dunkle Haar kurz und aus der Stirn gekämmt, dem Jüngeren hingen die blonden Locken ums feine Gesicht. Im Traum waren sie so verschieden von Angesicht und in ihrer Haltung wie sie es in der Realität heute sind. Und hoben im Traum ihre kleine Mama aus dem Zug...
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