„Reiselektüre ist so mit Eisenbahnfahrten verbunden wie der Aufenthalt in Bahnhöfen. Bekanntlich gleichen viele Bahnhöfe Kathedralen. Wir aber wollen es den fahrbaren, grellbunten kleinen Altären, die ein Ministrant der Neugier, der Geistesabwesenheit und der Sensation schreiend am Zuge vorbeijagt, danken, wenn wir, für ein paar Stunden in das vorüber fliehende Land, wie in einen wehenden Schal gekuschelt, die Schauer der Spannung und die Rhythmen der Räder über unseren Rücken dahingehen fühlen.“
Walter Benjamin
Kein Land für alte Männer
Am Fluss
Ich las „in einem Zug“ – was hier auch wörtlich zu verstehen ist - diesen schlanken Krimi über Blutorgien und Flussüberschwemmungen, blutleere Autoren und blutgeile Leser von Guido Rohm. In "Blut ist ein Fluss" geht es um den Serienmörder Richard Banner (Ich verrate hier nichts, was Ihnen die Spannung rauben könnte, denn es handelt sich nicht um einen „Who´s dunnit“.), der in der Provinz vier Jugendliche umbringt, gefasst wird und im Gefängnis die von ihm selbst als korrekt empfundene Exekution erwartet. In der trostlosen Gegend am Fluss, die den Schauplatz der Verbrechen abgibt, leben Bender und Keyser, zwei trinkfreudige Freunde, die gewöhnlich gemeinsam eine unheimliche Angelstelle am Fluss aufsuchen. Als Bender einmal allein dorthin fährt, findet er die übel zugerichtet Leiche eines Jugendlichen. Das wirft ihn völlig aus der Bahn und seine Frau Linda in die Arme des Polizisten Oliver, dessen Ehrgeiz seinem Vorgesetzten, dem kurz vor dem Ruhestand stehenden Polizeichef Linus, Kopfschmerzen bereitet. Außerhalb der Stadt leben außerdem am Fluss auf heruntergekommenen Farmen der Eigenbrötler Pat sowie Junior mit seinem versoffenen Vater, der seit dem gewaltsamen Tod der Mutter das Haus nicht mehr verlässt. Über den Fluss, erfährt der Leser, kommen, getrieben von der Not, immer mehr „Dunkle“ in die Gegend, denen nicht nur die Polizisten mit rassistischen Vorurteilen begegnen. Diese Erzählung wird bisweilen unterbrochen durch Kapitel, in denen der Autor des noch unvollendeten Romans „Blut ist ein Fluss“, ein gewisser Tom Torn, der in den USA tatsächlich als Autor von Hard-boiled-Krimis bekannt sein soll, auf seinen Verleger trifft, vor einer fanatisierten Fan-Gemeinde liest oder in einer Fernsehshow auftritt.
Im Show-Biz
„Verbrechen lohnt sich. Fragt sich nur, für wen.“, beginnt Rohms Roman. Es geht also, denkt die versierte Krimileserin um Verbrechen als Geschäft, organisierte Kriminalität, Korruption im großen Stil, womöglich Kapitalismuskritik im Gewand des Krimis á la Sjöwall/Wahlöö. Weit gefehlt – Verbrechen lohnen sich hier vor allem für diejenigen, die sie (be-)schreiben, die Verbrechensliteratur verlegen, besprechen und verkaufen: Es ist die Kriminalliteratur-Branche, die von seinen Verbrechen profitiert, während der Serienmörder in seiner Zelle auf die Hinrichtung wartet. Prolog und erstes Kapitel von „Blut ist ein Fluss“, vorgeblich einem „Doku-Roman“ in der Nachfolge von Capotes „Cold blood“, sind geschrieben, als sich Autor Torn und Verleger Grimm zu einem alkoholgeschwängerten Arbeitsessen treffen. Die Marketingstrategie ist klar: „Du solltest noch mehr Blut reinpacken.“ Mit diesen Klischees spielt der „Meta-Krimi“ Rohms. Doch sollte man dieser Selbstbeschreibung des Autors, die den Text als bloße Kollage aus Versatzstücken der amerikanischen Kriminalliteratur von Chandler und Hammet, über Thomas und MacDonald, bis zu Willeford oder Ellroy auszugeben scheint, nicht vorschnell auf den Leim gehen.
Rohms "Meta-Krimi" liest sich flüssig und ist flott geschrieben. Doch täuschen die knappen und nur scheinbar kunstlosen Sprachformen darüber hinweg, wie ernst hier trotz allen Amüsements über die Geschäftspraktiken der Branche die Themen der Gattung genommen werden: Angst, Gewalt, Tod und Schuld. Dass und wie diese zum Medium der Unterhaltungsindustrie werden, wird schließlich schon im Prolog nicht von einem auktorialen Erzähler dem Leser zur Gaudi vorgeführt, sondern als Vision des verurteilten Massenmörders von der Inszenierung seines eigenen Todes: „Wir bekommen von kundiger Hand eine Giftspritze gesetzt und werden auf den elektrischen Stuhl geschnallt und gegrillt. Dabei sehen eine Menge Leute zu. Gierige Blicke, die sich durch ein Panoramafenster fressen. Das Fenster gibt ihnen das Gefühl, nicht wirklich dabei zu sein. Es ist, als würden sie vor einem überdimensionalen Fernseher sitzen.“
Meta-Roman
Die Meta-Struktur dieses Krimis erschöpft sich auch nicht darin, dass Rohm den Autor Torn einen Roman mit dem Titel „Blut ist ein Fluss“ schreiben lässt. Vielmehr werden die Erzähltechniken der Gattung systematisch untergraben. Das fängt damit an, dass kein Detektiv auftritt, der den Fall löst, viel gravierender ist jedoch, dass Rohm der Erzählung und den Figuren die Bestimmtheit von Zeit und Ort raubt. Wir erfahren nie, wo der Blutfluss über die Ufer tritt und wann die Morde, die offenbar so publikumswirksam verwertet werden können, geschehen. Irgendwo im amerikanischen Süden, können wir vermuten, irgendwann in den Tagen, bevor es Mobiltelefone gab, können wir annehmen. Ein zentrales Merkmal der Gattung jedoch war und ist – bis zu Ellroy hin – die manchmal fast grotesk genaue Verpflichtung auf einen geographischen und historischen Realismus. Die gesellschaftliche und/oder moralische Entwurzelung der Helden und Anti-Helden wird gerade vor dem Hintergrund dieser klaren Verortung und zeitlichen Einordnung kenntlich gemacht. Rohm dagegen siedelt seine literarischen Gestalten am reißenden Ufer eines Niemandslandes an, eines bloß Erinnerungen an literarische und filmische Landschaften wachrufenden Nicht-Ortes. Hier spielt sich eine Geschichte von Hass und Gewalt, Mutterliebe und Vatermord, Gattenbetrug und Vergewaltigung ab, die kein Klischee auszulassen scheint und doch im Klischee nicht aufgeht.
Tragik
Denn dass Rohms Roman zu fesseln vermag, liegt nicht daran, dass er virtuos die Versatzstücke des Genres noch einmal neu montiert. Die Auflösung der gewohnten Merkmale des Kriminalromans verdeutlicht vielmehr die Tragik, die darin liegt, dass Hass, Gewalt, Tod und Schuld gleichzeitig klischeehaft und wahr sind. So überträgt sich auf den Leser auch die Verzweiflung der Figuren, die sich hoffnungslos gegen die Ortlosigkeit der Handlung zu behaupten suchen, in die sie gestellt sind. Daher werden die Gewaltorgien in Rohms Roman – anders als Verleger Grimm es von seinem Autor fordert - nicht dargestellt, um das voyeuristische Interesse des Lesers zu befriedigen. Sie sind vielmehr quälend. So wird der geplante Mord am Hund geübt: „Dann griff er nach dem Nagel. Er legte den Nagel an. Irgendwo in der Mitte des Hundebauches. Er kannte sich da nicht aus. Ja, das war eine gute Stelle. Die Haut gab ein wenig nach. Mit der anderen Hand tastete er ohne hinzusehen nach dem Hammer. Da war er. Er hatte ihn. Er spürte die Kühle. So ein Hammer tat gut. Das richtige Gewicht für seine Zwecke. Er hielt den Nagel. Er hob den Hammer. Dann schlug er zu. Er schlug wieder zu. Und dann noch einmal. Der Nagel verschwand im Bauch des Hundes.“ So genau will die Mehrheit der Leser, die viel Blut will, das gar nicht wissen: wie das geht, wie man vorgeht, wie viel Mühe das auch macht, zu quälen, zu foltern, zu töten, wie man dabei schwitzt. Dabei lässt uns Rohm in die Hirne der Täter schauen, in denen es gar nicht so anders tickt als bei unsereiner, die sich auch selbst gequält und getrieben fühlen, die genervt und ungeduldig im Regen stehen. Nirgendwo. Überall.
Kein Land für alte Männer
Ich habe bei der Lektüre dieses Romans oft an den Film „No country for old men“ der Brüder Coen denken müssen. Die amerikanischen Western erzählten die Gründungsmythen einer patriarchalen Gesellschaft: von harten, gewaltbereiten Männern, ihren Kämpfen und Opfern, ihren Ehrbegriffen und Besitzergreifungen, von Familiengründungen und Landnahmen, düsteren Geheimnissen und versteckten Gräbern. Davon, wie das Gesetz-des-Vaters durchgesetzt wird. Der klassische amerikanische Kriminalroman erzählte die Krise dieses Patriarchats: von besessenen Frauen, die ihren Besitzern davonlaufen, von rebellierenden Söhnen und krankhaften Muttersohn-Beziehungen. Mehr und mehr flossen schließlich in den Kriminalroman die Exzesse bei der Durchsetzung des Vater-Gesetzes, die Korrumpierung der Ehrvorstellungen, das Scheitern der Väter ein. Der Held, der die krisengeschüttelte Welt noch einmal in Ordnung brachte, wurde zum Anti-Helden, der sich seinen Gegenspielern bis zu Unkenntlichkeit angeglichen hatte. Schließlich löste er sich gänzlich auf; die Erzählung kam ohne ihn, das heißt ohne den Detektiv aus. Guido Rohms „Meta-Roman“ geht diesen Weg konsequent zu Ende. Das literarische Niemandsland, dessen Blut ein Fluss ist, ist kein Land mehr für die anständigen, alten Männer, hier verkörpert im Polizeichef Linus, der noch einmal heimkehren kann zu seiner Martha, um seinen Kopf in ihren Schoss legen: „Linus schloss die Augen und lächelte. Das fühlte sich gut an. Das fühlte sich sehr gut an. Er hörte ein Gurgeln in ihrem Bauch.“ Doch erfahren wir, dass Linus und Martha „in eine solche Welt“ keine Kinder setzen mochten.Die Krise des Patriarchats ist am Ende. Keine Söhne mehr. Kein Ort, keine Zeit mehr für Männer wie Linus. Was jetzt geschehen wird, gehört nicht mehr in diese Ordnung; es stellt sie nicht einmal mehr in Frage. Der Autor Torn, wüst rauchend und trinkend, wie es klischeehafter gar nicht zu denken ist, verkörpert das Janus-Gesicht dieses alternden Helden. Doch auch er kriegt – „tatsächlich“ und im übertragenen Sinne – „keinen mehr hoch.“ No country for old men.
Rohm und der Killer
Nur zwei brechen dieses letzte Spiel der Spiegeleffekte und imaginären Identifikationen, das ins Leere gelaufen ist, weil die Fiktion nur noch Fiktionen zurückwirft, auf: der Serienmörder und der Autor. Dem Serienmörder hat der Autor das „Ich“ im Prolog geschenkt. Und der spricht nicht psychopathisch unsere Klischees bestätigend, sondern was jeder nachfühlen kann: „Ich sehne mich nach Regenwolken. Dunklen Regenwolken. Vielleicht hat der Typ doch recht gehabt und die Menschen sind einfach nie zufrieden. Ist der Himmel blau, wollen sie ihn irgendwann grau, und umgekehrt. Es ist einfach nie in Ordnung, wie es gerade ist. Wir wollen es immer anders.“ Letztlich, prophezeie ich Ihnen, wird es dieser Mörder sein, mit dem Sie als Leser:in am meisten mitfühlen. Doch der Autor Rohm lässt Sie nicht bei diesem Anti-Helden bleiben. Er lässt in dieser fiktiven Welt, die er erschreibt und die kein Spiegel einer realen mehr sein kann, noch einmal Gerechtigkeit walten: die Killer kommen nicht davon. Den Grausamsten lässt er grausam erschlagen. Er spricht sich selbst das Todesurteil: "Mein Junge, du und ich, wir sind dieses Land. Wir verkörpern es. Wir sind nicht schwach. Wir wissen, dass Gewalt nötig ist, um die Menschen zu einer Gemeinschaft zu formen. Nur die Angst vor Gewalt lässt sie zusammen halten." Damit ist klar: Auch dieser Junge ist ein Alter. No country for old men. So einen kann Rohm im "Meta-Roman" nicht überleben lassen.
Geiselnahme
Dieser Eingriff hat ein Nachspiel. Wer dem Verbrecher noch einmal gibt, was er verdient, wird ins Verbrechen gezogen: Der Autor muss in den Text. Und zu diesem Zweck, wie sich erst ganz am Ende herausstellt, wurde er eingeführt, der Stellvertreter, der Lückenbüßer: Tom Torn. Ein Geißelnehmer taucht auf. Und fordert den Austausch: Der Schriftsteller gegen das weinende Mädchen, das er gefangen hält. Und Rohm schickt Torn. War ja klar.
Aber lesen Sie selbst.
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