Donnerstag, 21. Oktober 2010

Nicholson Baker: The Anthologist

Erlesen. Buchempfehlung:

Die letzte Betonung

von MOREL

Warum sind so viele moderne Gedichte reimlos? Woher kommt trotzdem unsere Freude am Reim, der wir immer noch massenhaft im mehr oder weniger lauten Nachsingen von Chansons, Popsongs und Schlagern nachgehen? Warum ist das Wort Jambus ein Trochäus? Wer Antworten auf diese Fragen erwartet, braucht nicht zu literaturwissenschaftlicher Fachliteratur zu greifen. Das neue Buch von Nicholson Baker – The Anthologist – geht diesen Fragen auf den Grund. Es handelt sich aber nicht um ein Sachbuch sondern um einen Roman. Paul Chowder ist ein, wie er selber zugibt, mäßig erfolgreicher Lyriker. Die ein, zwei Gedichte von sich, die er für gut hält, hat er schon vor einigen Jahren geschrieben. Nun soll er eine Einleitung zu einer Anthologie gereimter Lyrik schreiben. Obwohl er selber ein moderner, in freien Rhythmen schreibender Lyriker ist, nimmt er sich nichts Geringeres vor als eine groß angelegte Apologie des Reims und des festen Versmaßes (und auch hierzu hat er eigentümliche Vorstellungen). Doch mit der Einleitung will es nicht so recht vorangehen. Chowder läuft Verse singend in seiner ihm als Arbeitszimmer dienenden Scheune herum. Er setzt sich auf einen weißen Kunststoffstuhl vor sein Haus. Seine Nachbarin bringt ihm in Plastik eingeschweißtes Essen, das er begeistert in allen Details lobt. Oft denkt er an Roz, seine langjährige Partnerin, die ihn wegen seiner monatelangen Unproduktivität und Unzugänglichkeit verlassen hat. Aber vor allem denkt er an Gedichte, auch an die Schicksale der Frauen und Männer, denen sie eingefallen sind. Es sind gereimte Gedichte aus dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die im Zentrum seiner Anthologie stehen. Darunter auch leichte, komische Verse, wie sie typischer Weise in Zeitschriften abgedruckt wurden. Diese Art von Lyrik wird – zwar schrullig und harmlos klingend, aber im Grunde polemisch – abgegrenzt gegen die großen heroischen Dichter der klassischen Moderne: Ezra Pound und T.S. Eliot beispielsweise, als Hauptbösewicht der Futurist Marinetti.

Chowders große Obsession neben dem Reim aber ist das Vermaß. Und der für die englische Lyrik angeblich typisch jambische Fünfheber. Nein, so Chowder aggressiv, das sei falsch. Es sind sechs Hebungen, nur sei die sechste Hebung eben nicht hörbar, weil sie in der Pause am Ende der Zeile liege. Sehr unsympathisch ist ihm daher das besonders in der zeitgenössischen Lyrik so beliebte Enjambement. Und so endet das Buch auch mit einem jambischen Fünfheber („The summer’s over. It’s fall, Shadows on the windshield.“) gefolgt vom Wort „Rest“. Die Einleitung zur Anthologie wurde schließlich in wenigen Tagen geschrieben. Sie ist mit 230 Seiten ungefähr so lang, wie das Buch, das wir in den Händen halten.

Mit dem Roman, der sich von der Modernitätskritik Paul Chowders unterscheidet (ohne sich von ihr auf banale Weise zu distanzieren), also nicht einfach nur ein als Roman getarntes Sachbuch ist, wird man nicht so schnell fertig, wie er sich liest. Denn Baker schreibt im Grunde keine Prosa, sondern gesprochene Sprache. Damit verführt er aber dazu, ihn zu leicht zu nehmen (jede Wette, dass er noch nicht einmal auf der Liste für den Nobelpreis steht). Das Thema des Buches ist nicht eine revisionistische Kritik an der Ästhetik des 20. Jahrhunderts, dafür hätte ein Essay genügt – und der ist schon unzählige Male geschrieben worden. Es ist im Gewand dieser Kritik eher eine Ortsbesichtigung. Wo sind wir nach hundert Jahren Moderne? Wie fühlt es sich denn an, so frei und ungereimt? Schon früh im Buch führt Chowder unsere Freude am Reim auf den Prozess des Sprachenlernens zurück, als ähnlich klingende Worte von unserem Gehirn noch zusammen gruppiert wurden. Erst mit dem verstandgesteuerten Lernen der Bedeutungen trennt sich der Gesang vom Gang. Reime sind also eine Form von Regression. Und unübersehbar ist das Leben Chowders, während er die Einleitung zu schreiben versucht, ziemlich reimlos – er ist allein und im Grund „incommunicado“. Die Volkskrankheit Depression zieht auf leise, unheimliche Weise ihre Spuren durch seine so harmlos klingenden Plaudereien und Beobachtungen. Hochkomisch und gleichzeitig bedrückend ist dieses Buch. Der Roman endet offen, mit der letzten Betonung, die, so Chowder, ja unhörbar ist. „It’s up to you“, wie der Amerikaner sagt. Einen Reim darf sich jede und jeder selbst darauf machen.

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