Freitag, 10. Dezember 2010

WIR VERSCHWÖRER (1)

Draußen hinter den verschneiten Bäumen lauert im Winterweiß die Verschwörung, verstecken sich Männer in hellen Trenchcoats (mit dem Weiß verschwimmend) und dunklen Hüten (gesichtslos). Schließ die Tür, zieh die Vorhänge zu, verbirg dich im Dunkel. Lass dich auf nichts ein, sieh dich vor, halt dich bedeckt. Jederzeit hat die Macht dich im Auge, spitzt sie das Ohr, stellt sie dir eine Falle. Sie wollen alles: dein Geld, dein Blut, deine Gedanken, deine Träume, deine Hoffnungen. Die Macht ist unersättlich. Wie Herrschaft funktioniert: Genug ist nie genug. Wer hat, dem wird gegeben. Nimm, was du kriegen kannst. Behalt für dich, was du weißt.

Wir haben uns längst angewöhnt, nicht mehr an die Herrschaft des Volkes zu glauben, uns unser Recht auf Teilhabe abkaufen zu lassen, Konsumenten statt Bürger zu sein, Freiheit  als die Wahl zwischen zweiunddreißig Sorten Kaugummi in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen zu begreifen.  Wer die Tür öffnet, betritt die Einkaufsmeile. Habe Mut, dich zu bedienen. Greif zu. Glaub nichts, kauf alles, was du dir leisten kannst.

Volksverdummung ist das Herrschaftsinstrument der Gegenwart. Il Prinicipe reloaded: Beschäftige den Souverän mit nackten Titten, Tratsch und Klatsch, lass ihn sich über Parkgebühren und Einkaufsgutscheine erregen, Schwulitäten und Fahrdienste, Poolgeplansche und Winterdienst, spiel ihm ein Lied. Er vergisst alles, verlass dich drauf. Hinter den Kulissen kannst du machen, was du willst.  Ab und zu bring ihm ein Opfer. Vor allem nachdem die Türme fielen, gab es kein Halten mehr. Uneingeschränkte Solidarität. Unbedingte Sicherheitsgarantie. Verlogene Kriegsgründe. Home Security. Datenvorratsspeicherung. Terrorabwehr. Water boarding. Sie haben die Wahl. Wählen Sie zwischen Sicherheitspaket I und Sicherheitspaket II. Freiheit ist nicht im Angebot. Das Angebot regelt die Nachfrage. Ist Wandel möglich?

To radically shift regime behavior we must think clearly and boldly for if we have learned anything, it is that regimes do not want to be changed.“ Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Wer aber an sie glaubt, gilt als krank. Nach jeder Verschwörung, die aufgedeckt wurde, nachdem die Lügen Powells im UN-Sicherheitsrat enthüllt waren, nachdem keiner mehr behaupten konnte, Toni Blair habe dem Parlament die Wahrheit gesagt, nach einigen ungeklärten Todesfällen ehemaliger Agenten und Regierungsangestellter, nach Abu Ghraib und Guantanamo zeigte sich die freie Presse immer noch überzeugt, es handele sich um Einzelfälle, gar manches wurde sogar aufgedeckt. Aber sichtbar wurde auch: Kein enthülltes Verbrechen hatte Konsequenzen für die Herrschenden. Niemand trat zurück. Niemand wurde angeklagt. Wir lernten: Wer Macht hat, verliert nie. (Das gleiche Prinzip wurde wenig später in der Finanzmarktkrise auf anderem Parkett erneut demonstriert.)

„We must understand the key generative structure of bad governance.“ Als solche identifiziert die Vernunft des Informationszeitalters:  Verschwörung als  Prinzip autoritärer Herrschaft. Es geht dabei nicht ausschließlich darum, sich materielle Vorteile und Privilegien zu verschaffen, sondern vor allem um dauerhafte Selbsterhaltung des Systems. Die Verschwörung zur Etablierung einer autoritären Herrschaftsstruktur, die Julian Assange und andere seit 9/11 am Werk sehen, zerstört die Prinzipien der Demokratie, indem sie dem Souverän die Entscheidungsgrundlage, nämlich die Informationen entzieht.  Die Methode ist Kontrolle über und Geheimhaltung von Informationen. Auf diese Weise wird die Herrschaft des Volkes mit dem Argument ausgehöhlt, dass das Volk vor dem Herrschaftswissen zu seinem eigenen Besten geschützt werden müsse. Den sich hier etablierenden repressiven Machtstrukturen, meint der Herausgeber von Wiki-Leaks, könne man nicht mehr mit den Widerstandsformen vergangener Jahrhunderte begegnen. Vielmehr gelte es, die Verschwörung zu bekämpfen, indem ihre Selbsterhaltungsmethode angegriffen werde: Informationen geheim zu halten, zu produzieren, zu verteilen und Kommunikationswege zu kontrollieren. In anderen Worten: Widerstand gegen ungerechte Herrschaft heute heiße: (Alle) Informationen offenlegen, bereitstellen, verteilen und Kommunikationswege zu öffnen.

Die Herrschaft begreift umgekehrt die Aktivitäten von Wikileaks ganz offensichtlich gleichfalls als Verschwörung. Sie begegnet ihr mit traditionellen Polizeistaatsmethoden: Ausschalten des vermeintlichen „Kopfes der Bewegung“, Angriffe auf die Kommunikationsströme unter den Verschwörern (Plattformen, Server, Zahlungsflüsse). Sie entblößt sich damit in den Augen ihrer Kritiker, als das, was diese erwarten: eine Verschwörung gegen die Freiheits- und Beteiligungsrechte der Bürger. Der Paranoiker erlebt die Erfüllung seiner kühnsten Träume. Sein krankhaftes Weltbild erweist sich als das einzig realistische. Wir sind Zeitzeugen eines neuartigen Bürgerkrieges. An seinem Ende wird ein globaler Gesellschaftsvertrag zu schließen sein, der Herrschaft im Informationszeitalter legitimiert, für ihre Kontrolle sorgt und Widerstandsrechte definiert. In diesem „Krieg“ müssen wir uns positionieren. Es geht wie in vergangenen Zeiten um die Frage: mehr Sicherheit oder mehr Freiheit? Wollen wir uns einem Leviathan unterwerfen oder nehmen wir es auf uns, Netz-Bürger zu werden? Freiheit in Anspruch zu nehmen, hat immer schon Anstrengung und Unsicherheit bedeutet. Wer frei sein will, kann Verantwortung nicht an die Herrschenden delegieren. Wer weiß, was im Irak und in Afghanistan geschieht, was der saudische Potentat hinter verschlossenen Türen an Maßnahmen gegen den Iran fordert, wie die deutsche Regierung ihrem Staatsbürger al-Masri den verfasssungsmäßig garantierten Schutz verweigert hat, steht in der Verantwortung. Das ist unbequem. Nicht nur die Herrschenden haben ein Interesse daran, den Widerstand zu brechen.

Draußen im Winterweiß verbirgt sich niemand. Keiner muss rausgehen, um sich kundig zu machen. Die Horcher an der Wand sitzen längst am Ende der Kabel, verwalten die Datenströme, entschlüsseln die Mails, kontrollieren die Zahlungen an die Wau-Holland-Stiftung. Wundern Sie sich nicht, wenn Ihnen beim nächsten Mal die Einreise in die Vereinigten Staaten verweigert wird. Verschwören Sie sich trotzdem. Gegen die Verschwörung. Schaffen Sie Inhalte. Verbreiten Sie Informationen. Orientieren Sie sich nicht an den „maßgeblichen Stellen“. Vertrauen Sie keiner Autorität. Öffnen Sie die Ventile. Lassen Sie die Geheimnisse raus. Vergrößern Sie die Lecks. Seien Sie misstrauisch. Nur Paranoia ist Realismus.

„Everytime we witness an act that we feel to be unjust and do not act we become a party to injustice. Those who are repeatedly passive in the face of injustice soon find their character corroded into servility. Most witnessed acts of injustice are associated with bad governance, since when governance is good, unanswered injustice is rare. By the progressive diminution of a people’s character, the impact of reported, but unanswered injustice is far greater than it may initially seem. Modern communications states through their scale, homogeneity and excesses provide their populace with an unprecidented deluge of witnessed, but seemingly unanswerable injustices.“


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