Montag, 28. März 2011

AUF VERLORENEM POSTEN

MOREL über die Notizhefte Henning Ritters*

Nach monatelanger, durchaus lohnender und anregender Beschäftigung mit den Notizheften Henning Ritters, muten einen die Werbemaßnahmen des Verlages so seltsam an wie die undifferenziert begeisterte Aufnahme des Buchs durch die Kritik. Als habe Ritter, der langjährige Verantwortliche für die Seite „Geisteswissenschaften“ in der F.A.Z., einen unerhörten Ton getroffen, war der Jubel beinahe einhellig. Die Zeitschrift „Literaturen“ sprach von einem Sog, der den Leser ergreife, die „Zeit“ von einem Klassiker der Gegenwart. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Ritter scheint überflüssig: in den Notizheften steht offenbar die nicht weiter zu diskutierende, aber nun endlich zu Tage tretende Wahrheit über unsere Zeit. Dazu heißt es in den Notizheften selbst: „Am Anfang jeder Kultur steht die Unterscheidung und an ihrem Ende die Unfähigkeit dazu.“ (106)

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Solche Verfallsdiagnostik prägt die Notizhefte beinahe durchgehend und bezeichnet ihren historischen Ort. Es ist eine Kritik der aufgeklärten, fortschrittsgläubigen Moderne, in der die Gegenwart sich absolut setzt. „Der Preis dafür“, so Ritter, „ist, daß die gegenwärtige Menschheit das Gefühl haben muß, allein auf der Welt zu sein.“(32) Gewährsleute dieser Kritik sind im 20. Jahrhundert beinahe ausschließlich konservative Intellektuelle wie Spengler, Ortega y Gasset, Benn, Jünger und Carl Schmitt. Mit den linken und liberalen Gegenspielern dieser Positionen, etwa Habermas, Cassirer, Popper, Kelsen beschäftigt sich Ritter nicht. Sein zweiter Ansatzpunkt ist die Kritik an den Folgen der französischen Revolution. Auch hier verzeichnet er mit de Maistre und Stendhal lieber die Verluste als die Errungenschaften. Die durch den übertriebenen Rationalismus des 18. Jahrhunderts geförderten Großübel tragen die Namen: Universalismus, Säkularisierung, Emanzipation. Alle werden zwar als faktisch unhintergehbar anerkannt, gleichzeitig aber als folgenträchtige Weichenstellungen hin zum Abgrund. In anderen Zeiten hätte man das Programm Ritters als reaktionär bezeichnet. Aber da verstanden die Kritiker ja noch zu lesen.

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Was Ritter einem auch dann sympathisch macht, wenn man diese Positionen nicht teilt, ist eine gewisse Illusionslosigkeit beim Blick auf unsere Gegenwart (für sein Buch verwendet er Notizen, die in der Zeit vom Mauerfall bis zum Jahr 2009, allerdings sind die Aufzeichnungen nicht datiert, was ihnen den Schein der Zeitlosigkeit verleiht). Er ist kein ideologischer Schriftsteller, der errungene Positionen zu verteidigen oder Entscheidungen zu rechtfertigen hat. Die Kritik des vollendeten Liberalismus, das der Sache nach hierhin gehörende Wort Kapitalismus wird natürlich gemieden, fällt schärfer aus als bei seinen linksliberalen Zeitgenossen: „Das Zeitalter des Liberalismus endet mit der Auszehrung der Freiheitsidee und ihres Pathos…Die Freiheit, die der Liberalismus vorausgesetzt hatte, wird vom liberalen System, das sie in die Welt setzte, abgestoßen als unverwertbar. Das Individuum ist nur noch ein Anhang des Systems.“ (76) Konstruktives zur Veränderung dieser Zustände beizutragen hat Ritter nicht. Ebenso deutlich ist seine Kritik an der „menschenrechtlichen Umformung der Welt“, gegen die er mit Edmund Burke an den „Mensch als Teil einer konkreten Gemeinschaft und Erbe einer Vergangenheit“ erinnert (165). Vor dem Hintergrund humanitär begründeter Kriege, gewinnen diese Sätze besondere Brisanz: Ritter hält die aus abstrakten Prinzipien entstehende Gemeinschaft und die durch den (wohl durch die Herrschaft der Medien charakterisierten) Unterhaltungscharakter unserer Zeit beförderte Hysterie für bedrohlich. Aber die Blindstelle seiner Argumentation ist natürlich, es seien nur die abstrakten Traditionen unserer Zeit „erfunden“ und nicht auch die althergebrachten Mythen und Religionen. In mehreren Aufzeichnungen erscheint als Fluchtpunkt seines Denkens die durch den Tod Gottes entstandene Leerstelle. Sehr deutlich am Ende des Buches: „Unsere Probleme ergeben sich daraus, dass Gott zu früh abgeschafft wurde. Nietzsche ist ein Beispiel für die Ungeduld, diesen Schritt zu tun, ohne einen Ersatz bei der Hand zu haben.“ Interessant hieran ist zweierlei: Gott ist abschaffbar, Ritter also beileibe kein Gläubiger, aber gesellschaftlich gilt Religion als Institution ihm als unverzichtbar. Diese Unterscheidung zwischen einer Philosophie für die Eingeweihten und der Schullehre für das Volk ist ein Klassiker, aber nicht mehr allzu zeitgemäß.

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Quelle:http://www.cosmopolis.ch/images/
art/andy_warhol_self_portrait.jpg
Ritters Notizen helfen daher gerade nicht, die Gegenwart zu erschließen, wie es in der Begründung der Jury zur Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse heißt. Sie zeigen ein konservatives Denken auf verlorenem Posten, eine zögernde Suche nach Halt, die aber immer mit dem Griff ins Leere endet. Die schönsten Sätze finden sich ganz am Ende des Buches, wenn Ritter sich ein wenig mehr Individualität gestattet. Hier fällt dann auch öfters das Wort „Ich“. Ansonsten mag es einem scheinen, als hätte Ritters eine einzige Aussage des sonst eher abschätzig beurteilten Walter Benjamin verinnerlicht: dass nur der gut schreibe, der auf das „Ich“-Sagen verzichte. Ganz in diesem Sinne und in seiner Melancholie mit Benjamin verwandt, heißt es am Ende des Buches glanzlos und doch elegant: „Ich bin jemand, der zögert und beiseite tritt“. Am fremdesten erschien mir Ritter in einer kurzen Aufzeichnung über Andy Warhol, der als Cagliostro unserer Zeit entlarvt wird: „Der Betrug ist offensichtlich, und alles drängt sich herbei, um darauf hereinzufallen.“ Nein, hereingefallen sind nicht allzu viele, die Kritik an Warhol als Scharlatan ist auch nach seinem Tod kurz vor dem Beginn der Aufzeichnungen Ritters nie wirklich abgeklungen, aber seine Ideen waren wirkungsvoller als die Reflexionen Ritters in ihrem leisen Stolz auf ihre Zeitlosigkeit. Was Bestand haben wird, steht aus.

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* Unter der Rubrik "Erlesen. Buch-Empfehlungen" erscheint, was wir "uneingeschränkt" (wie peinsam dieses Wort auf mich wirkt, nachdem Gerhard Schröder es nutzte, um einen Angriffskrieg zu rechtfertigen) empfehlen können. Ganz offensichtlich gilt dies für Henning Ritters Notizhefte nicht, wiewohl Morel sie sehr lesenswert findet. Die Sympathie, die er Ritter (oder Ritters "Haltung") entgegenbringt, teile ich nicht. Das hat vor allem, glaube ich, soziologische Gründe. Das Milieu, dem Ritters Sprachgestus sich - uneingeschränkt - verpflichtet zeigt (obwohl illusionslos), ist mir nicht nur fremd, sondern auch unangenehm.

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