Ein Beitrag von MOREL
Jede Kunstform kennt ihre späten Blütezeiten. Alles scheint schon erzählt, gemalt oder gefilmt worden zu sein. Nachdem die Revolution im Sande verlaufen ist oder sich in neuen Herrschaftsstrukturen niedergeschlagen hat, beginnt die Erinnerung an die Zeit davor. Und diese Erinnerung schlägt sich dann wieder in neuen Kunstwerken nieder. Allerdings gibt es keinen Weg zurück – auch der Revisionist ist ein Kind seiner Zeit, der Gegenwart, und nicht der Vergangenheit. Was da noch einmal blüht ist nur eine Scheinblüte, die keine Frucht mehr tragen wird. Aber auch die Revolutionäre bleiben ja ohne Nachkommen.
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Die Nouvelle Vague begann mit einer Attacke auf die Literatur. In „Eine gewisse Tendenz im französischen Kino“ griff Francois Truffaut den poetischen Realismus an, der literarische Werke allzu geschmackvoll auf die Leinwand brachte. Dagegen setzte er das Kino der Autoren, bei dem der Regisseur die Kamera als Schreibwerkzeug nutzt, um seine Vorstellungen in Bilder umzusetzen. Die Filme, die auf diesem Putsch folgten, gehören sicherlich zu den schönsten in der Filmgeschichte. Aber die Ideologie der „Autoren“ – eine im übrigen sehr literarische, eigentlich wenig filmische – führte schon bald zu einer gewissen Müdigkeit, spätestens in den 70er Jahren, als der durch die eigene Erfahrungswelt allzu eng gezogene Kreis des Erzählenswerten sich geschlossen hatte. Godard flüchtete in die Politik, Chabrol in ein neues Kino der Qualität und Truffaut hatte sich am Ende seiner Reise durch das Kino in das verwandelt, was er einst verhöhnte: einen Filmregisseur, der von der Literatur des 19. Jahrhunderts träumt. Der beeindruckende und gleichzeitig bedrückende Film La Maman et la putain von Jean Eustache bildet im Grund die Sackgasse ab, in der die Autorenpolitik nicht nur in Frankreich landen musste.
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Mit den Spielfilmen von Betrand Tavernier beginnt in den 70er Jahren eine leise Revolte gegen die nun schon etablierte französische Welle. Es steht nicht die Persönlichkeit des Regisseurs im Mittelpunkt, sondern eine genaue, manchmal sogar dokumentarische Aufzeichnung des Alltags, im Grunde des Lebens. Im vor kurzem auf Arte gezeigten Film „Ferien für eine Woche (Une Semaine de Vacances)“, gedreht Anfang der 80er Jahre, zweifelt Laurence, eine Lehrerin, gespielt von der wunderbaren Nathalie Baye, an ihrem Beruf. Wir würden das heute Burnout nennen, aber damit alles, was an diesen Zweifeln berechtigt ist, verdrängen. Sie wird für eine Woche krank geschrieben und wir erleben einige Tage in ihrem Leben in Lyon: lange Gespräche mit einer Freundin, ein Besuch bei den Eltern in der Provinz, einige Begegnungen mit dem Vater eines Schülers, der ein Bistro betreibt. Dazwischen läuft das Radio, in Kultursendungen wird über Bildungsreformen gestritten, Laurence schaut aus dem Fenster auf das Haus gegenüber, wo sie eine alte Frau beobachtet, die einmal ein Kleid im selben Rot wie sie trägt. Keine der angeschnittenen großen Fragen wird endgültig geklärt. Sollen sie und ihr Freund ein Kind bekommen? Ist der Beruf als Lehrerin immer noch das Richtige für sie? Was ist mit der Frau gegenüber passiert? Alles könnte in der Schwebe bleiben, aber die Endlichkeit des Lebens erzwingt Entscheidungen. Es ist nur eine Woche Ferien, ein Zwischenraum der Möglichkeiten, bevor Laurence wieder in die Schule zurückkehrt, während sich ihre Freundin, die ihr genau dazu geraten hatte, dafür entscheidet, selbst etwas anderes auszuprobieren.
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Tavernier sucht in diesem und seinen anderen Filmen nach einer Möglichkeit die gemischten Gefühle beim Verfließen der Zeit zu zeigen. Filme wie Ein Sonntag auf dem Lande, Das Leben und nichts anders und Der Saustall sind daher experimenteller, gewagter, als es den Anschein erweckt. Was der auf Erzählung, Entwicklung und Zuspitzung ausgerichteten Literatur zumeist misslingt, ist in diesen Filmen präsent: das Unabgeschlossene, Unverständliche und uns doch nahe Gehende des gelebten Lebens. In einer Szene von Une Semaine de Vacances, einem Abendessen in der Wohnung des in Laurence ein wenig verliebten Gastwirts, erzählt dessen Freund von seinem Sohn, der im Gefängnis sitzt. Mehr erfahren wir nicht und Laurence fragt, wie im richtigen Leben, auch nicht nach. Diese Geschichte bleibt wie vieles in diesem Film undeutlich. Im Kino aber wurde sie schon erzählt: denn es handelt sich bei dem abendlichen Besuch, gespielt von Philipp Noiret, um den Uhrmacher von St. Paul, von dem der erste Spielfilm von Tavernier nach einem Roman von Georges Simenon erzählte. So hat man bei vielen Filmen Taverniers den Eindruck, der Gesichtspunkt, aus dem sie verständlich werden, läge außerhalb der von der Kamera erfassten Bilder.
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