Dieses Buch hat mich mitgenommen. Zweimal, zweifach: in Welten geführt, die ich nicht kannte, und ein emotionales Chaos ausgelöst, das mich verstörte. Es ist ein Roman wie kein anderer: ein Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt dreier Menschen, mit denen „etwas nicht stimmt“, ein Zusammentreffen von Maori-Mystik und modernem Individualismus, zärtlicher Liebe und heftiger Gewaltexzesse, scheußlicher Verletzungen, tiefer Kränkungen, Selbstzweifel, Heilung, Hoffnung. „The Bone people“ – Knochenmenschen, Suchende, auf den Spuren ihrer Herkunft, ihrer Quellen, ihrer Gründe.
Um diese drei geht es: Kerewin, Joe, Simon – eine Malerin, die nicht mehr malt; ein Vater, der Kind und Ehefrau verloren hat; ein Junge, der nicht spricht. Kerewin lebt in selbst gewählter Einsamkeit in einem Turm an der Küste Neuseelands. Sie hat sich dieses Refugium um eine spiralförmige Treppe gebaut als Fluchtort vor einer Welt, von der sie nichts mehr erwartet. Joe schuftet, um das seiner Frau Hana auf dem Sterbebett gegebene Versprechen zu halten, für den angenommenen Sohn Simon zu sorgen, nachdem ihr gemeinsames Kind Timote gestorben ist. Simon, das Findelkind, das nach einem Bootsunglück an die Küste gespült wurde, spricht kein Wort, schreit aber in von Alpträumen geplagten Nächten so verzweifelt, dass Joe kein Mittel findet, ihn zu beruhigen. Kerewin trinkt, um die Sinnlosigkeit zu ertragen. Joe trinkt, um sein Gefühl des Versagens zu betäuben. Simon schwänzt die Schule, stiehlt und bricht in leer stehende Häuser ein.
Vor etwa 15 Jahren las ich das ausgeliehene Buch in der deutschen Übersetzung zum ersten Mal. Die Intensität der Erzählung, die Fähigkeit Keri Hulmes die Leserin in die Gedanken und Gefühle ihrer Protagonisten eintauchen zu lassen, in unsympathische, schwierige, egoistische, traurige, lustige, unbegriffene Vorstellungen, Hemmungen, Träume, Sehnsüchte war auch in der Übersetzung spürbar. Ich gab es nach wenig Tagen „ausgelesen“ zurück, überwältigt und erschüttert von meinen eigenen Gefühlen bei der Lektüre.
Kerewin, Joe und Simon kommen sich langsam näher, nachdem Simon in Kerewins Turm eingebrochen ist. Vorsichtig lassen sie, die jedes auf seine Weise Beschädigte sind, sich auf einander ein. Doch dann findet Kerewin heraus, dass Joe Simon regelmäßig misshandelt. Obwohl Joe seinen Stiefsohn liebt, wird er immer wieder brutal, wenn er sich durch Simons Ungehorsam und seine Stummheit provoziert fühlt. Kerewin erkennt, obwohl Joes Taten sie anwidern, wie tief das elternlose Kind und der verwitwete Mann einander verbunden sind. Eine Reise zu den Ferienhütten von Kerewins Familie bringt die drei wieder zusammen. Kerewin nimmt Joe das Versprechen ab, Simon nie mehr ohne ihr Einverständnis zu schlagen. Doch Joe kann das Versprechen nicht halten, nachdem Simon einen weiteren Ausraster hat, alle Fensterscheiben in der Hauptstraße der Kleinstadt zertrümmert und in einem Wutanfall Kerewins geliebte Gitarre kaputt haut. Joe schlägt Simon härter als je zuvor; das Kind wehrt sich mit einer Glasscherbe, die es Joe in den Bauch rammt. Simon behält bleibende Schäden von dieser letzten Misshandlung, wochenlang liegt er im Koma, sein Gehörsinn ist beeinträchtigt, seine Gesicht entstellt, viele Knochen im Leib gebrochen, Narben sind entstanden, die nie wieder völlig verheilen werden. Bei der Gerichtsverhandlung wird Joe zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Kerewin hat zuvor schon den Turm abgerissen, um sich auf ihre letzte Reise zu machen. In ihrem Unterleib wächst ein Krebsgeschwür. Simon kommt in staatliche Obhut.
So endet Keri Hulmes Roman nicht. Alle drei begeben sich im letzten Teil der Erzählung auf eine Reise. Jedes wird mit sich selbst konfrontiert, seinen Ängsten, seinen Hoffnungen. Jeder für sich erkennen sie, dass sie an einander hängen, dass sie eine Art von Familie bilden, die es noch nicht gibt: ein Mann und eine Frau, die keine sexuelle Beziehung mit einander haben, verbunden mit einem behinderten Kind, dessen Herkunft sie nur zum Teil entschlüsseln konnten. Kerewin baut eine Muschel, ein spiralförmiges Gehäuse, für diese neue Gemeinschaft, dort wo vordem ihr Turm stand.
Nachdem ich den Roman vor vielen Jahren zurück gegeben hatte, plagte mich, wie sehr ich Joe, den Schläger, verstand, seine Wut, seinen Hass auf das Kind und seine Liebe zu ihm, wie sehr ich auch nachvollziehen konnte, dass Kerewin ihn nicht anklagt, nicht fallen lässt, nachdem sie von seinen Taten erfahren hat, auch wie sehr ich mich lesend einfinden konnte in die asexuelle Lebensform Kerewins, in ihren Unwillen gegen körperliche Berührung oder in Simons gemischte Gefühle aus schrecklicher Angst und unbändigem Trotz.
Ich vergaß den Namen der Autorin und den Titel des Buches, aber die Figuren, ihre Handlungen, ihre Worte verfolgten mich viele Jahre bis in meine Träume hinein. Nun habe ich dieses Buch durch einen Zufall „wieder gefunden“, im englischen Original diesmal. Und ich erkenne: über die Handlung und die subtile Figurenzeichnung hinaus ist dies auch sprachlich ein großartiges Buch. Es beginnt mit dem Ende: drei Menschen, die die Straße entlang gehen. He, he, she...: „New marae from the old marae, a beginning from the end.“ Sie nehmen einander an den Händen. Sie sind Leute unter Leuten, nicht mehr. Aber gemeinsam sind Kerewin, Joe und Simon „bone people“: „an instrument of change.“ Es ist ein utopischer Anfang für eine fürchterliche Erzählung über Liebe und Gewalt. Die Schmerzen sind kaum zu ertragen, denen Hulme ihre Figuren aussetzt. Aber sie führt sie zu einem Ende voller Hoffnung: „a spiral fretted with stars“. Der erste Teil des Romans, in dem Kerewin, Joe und Simon einander kennenlernen, trägt den Titel „Season of The Day Moon“. Hulmes erzählt ihre Geschichte wechselnd aus der personalen Perspektive der drei. Dabei gibt sie vor allem die Sinneseindrücke wieder: was sie sehen, hören, schmecken, riechen. Den Wind, das Geräusch der Wellen, die Sonne auf der Haut, das Schlagen der Türen. Im zweiten Teil „The Sea Round“, nach der Enthüllung von Joes Misshandlungen, fahren die drei in Kerewins Heimat am Meer. In „The Ligthning Struck Tower“, dem dritten Part des Romans, bricht ihre fragile Gemeinschaft scheinbar endgültig in Stücke. „O spirals are spirals and sweetly curled but two straight fingers can vee the world.“ Joe hat alle Hoffnung buchstäblich, wie es scheint, zerschlagen. „If only was the tapu phrase. If only I had. If only I hadn´t...“ Joe kommt ins Gefängnis, Kerewin verweigert jede Behandlung ihrer Krebserkrankung und zieht sich in gemietete Zimmer zurück, Simon liegt bewegungs- und fast besinnungslos im Krankenhaus: „Feldapart Sinew, Breaken Bones“ heißt dieser Teil des Romans. So wie Simon seinen Körper langsam erst wieder entdeckt, müssen auch Joe und Kerewin sich selbst buchstäblich „wieder zusammensetzen“. Joe trifft den „letzten der Kannibalen“, der ihm sterbend ein Geheimnis der Maori anvertraut. Kerewin glaubt Abschied zu nehmen von der Welt und lernt von ihrem Körper den Überlebenswillen. Sie kehren zurück: „Moonwater picking“. Das ist der Epilog: voller Sterne und Liebe und Hoffnung. Das ist gar nicht kitschig. Hulme hat sie nicht geschont. Auch die LeserInnen nicht.
„It is dawn, indeed it is dawn, and bright broad daylight braiding our home.
TE MUTUNGA – RANEI TE TAKE.“
Keri Hulme: The Bone People, Penguin books 1984, ab 0,01 € (englisch)
Keri Hulme: The Bone People, MacMillen 2001, 9,80 € (englisch)
Keri Hulme: Unter dem Tagmond, Fischer, 9,80 € (deutsch)
Schön, dass dieser große Roman mal wieder besprochen wird! Ich habe "The Bone People" 1987 in Neuseeland gelesen und kurz darauf am Strand von Okarito beinahe Keri Hulme getroffen ... Ein wunderbarer, trauriger, poetischer Roman über die Schrecken des Lebens, faszinierend und mitreißend.
AntwortenLöschenJa, es ist ein großartiger Roman. Leider habe ich seither nie wieder etwas von Keri Hulme gelesen. Aber ich werde jetzt nachforschen...
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