Freitag, 10. Juni 2011

Plädoyer für "eine edle Form der Naivität" (oder: Gerechtigkeit kann nie genügen)

"Denn wenn man fragt, welche Gefühle gut sind und welche Gefühle zu einem wirklich rationalen Urteil gehören, fragt man eigentlich, welche Formen der Abhängigkeit und der Bindung an unbeständige Dinge außerhalb unserer selbst für ein menschliches Leben gut sind. Zur Frage steht also, mit wie viel Unsicherheit und Abhängigkeit ein Menschen leben und sich dennoch eine intakte Identität bewahren und Gebrauch von seiner praktischen Vernunft machen kann; inwieweit Vertrauen zu anderen Menschen gut ist und an welchem Punkt es zur Naivität wird; ob man am besten ein Leben führt, das Thrasymachos (im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit) ´eine sehr edle Form der Naivität" nannte, oder ein Leben, das in der wohlüberlegten Maximierung des eigenen Nutzens besteht; ob es gut ist, angesichts des großen Schmerzes, den die Liebe bringen kann, überhaupt jemanden zu lieben; ob es gut ist, eine Gesellschaft auf diesen Bedürfnissen, Liebesgefühlen und Bindungen aufzubauen, oder ob es besser ist, sie auf den Respekt vor der Selbstgenügsamkeit der Vernunft zu gründen. Kurzum, es wird nach dem menschlich Guten gefragt.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Menschen untereinander und in sich selbst in Bezug auf diese Frage tief gespalten sind. Denn es tut weh, verletzbar zu sein, und es ist schwer, in einer unwirtlichen und unsicheren Welt vertrauensvoll zu bleiben. Die Position, die für die Abwehr von Gefühlen plädiert, wird es in der Philosophie wie im Leben so lange geben, wie es Menschen gibt, die es nicht ertragen können, in einer Welt tiefer und widersprüchlicher Bindungen zu leben, und nach einer reineren Welt streben."

3 Kommentare:

  1. Bin schwer angetan von dieser Textpassage. Leider momentan noch sprachlos angetan.
    Danke. Für - wieder einmal - die Erweiterung der Begriffszone.

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  2. Martha Nussbaum war eine Entdeckung, als ich mich kritisch mit John Rawls Gerechtigkeitstheorie auseinandersetzte. Weil ihre Kritik - von Aristoteles her - das "gute Leben", die Lebenskunst wieder in den Mittelpunkt der Philosophie zu rücken versucht.

    Ungeheuer lesenswert sind auch ihre Texte über das Begehren, die auf deutsch in einer kleinen Reclam-Ausgabe zu haben sind: Konstruktion des Begehrens, der Liebe und der Fürsorge. Darin befindet sich auch ein Text über pornographische Literatur, der mich sehr beschäftigt (hat).

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  3. Wird bestellt! (Auch wenn mir bei Reclam und Merve zumindest früher die Verve immer schnell flöten ging.
    Ich muss so eine Art Textbildschwäche haben. Manche, besonders die eng und klein gedruckten, lösen heftiges Schlafbedürfnis aus)

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