Samstag, 17. September 2011

KEINE HILFE


Der beleibte Mann griff nach Heilmanns Arm, um ihn durch die ehemalige Fabrikhalle zu lotsen. Die einzelnen Abteilungen waren durch Plastikplanen, die wallend wie riesige, glänzende Vorhänge von den Decken fielen, voneinander getrennt. Die Planen schillerten in allen Regenbogenfarben, manche waren blickdicht, andere ließen schemenhaft wie hinter farbigem Milchglas erkennen, was sich hinter ihnen abspielte, wieder andere waren vollkommen transparent und färbten das Puppentheater nur in verschiedenen Farben ein. Heilmann wurde in ein von weißbeschichteten Planen gebildetes blickdichtes Viereck gezogen.

„Sie wissen, dass auch die Celluloid-Exemplare ärztlichen Beistand benötigen, mehr sogar als die aus Porzellan oder Gummi?“ Heilmann zuckte die Achseln. Was für ein unsäglicher Quatsch, dachte er, wie habe ich mich nur auf so einen Scharlatan einlassen können? „Wir müssen heute anders agieren als zu Zeiten der Hexenverbrennung, das verstehen Sie doch sicher am besten?“ Weil ich auch damals schon dabei war – und es hinnahm?  Aber ich hatte keinen Sohn. Ich hatte kein Kind. „Darauf haben wir gewartet. Jahrhunderte lang. Ganz geduldig. Es war so gewiss wie der Sonnenaufgang am Morgen. Wer die Frauen so liebt...“ Aber sie, wie passte sie darein, die Fischschwänzige, die es gewagt hatte, Menschenkinder zu gebären? Warum ließ er die gewähren? „Sie büßt an ihren Füßen, glauben Sie mir, Heilmann. Immer schon.“

Die Matrosen hatten Melusine an Deck gezerrt. Die Tür, die Heilmann so sorgsam zweimal verschlossen hatte, war mit einer Axt aufgebrochen worden. „Ein blinder Passagier“, schrie der Erste Offizier. Sie hatten sie an den Füßen unterm Bett vorgezerrt, wo sie sich noch hatte verbergen wollen, als sie schon ahnte, dass keine Hilfe mehr war. Beim Fesseln ließen sie sich Zeit, nutzten die Gelegenheit, mit ihren schwieligen Händen ihre Brüste zu betatschen, bevor sie das Seil um sie schlangen. Verzeih mir, Schwester, meine Lästerung gegen die Ordnung der Welt. Unser Vater büßte an seinem Geschlecht, so stiegst du aus den Wogen, Schaumgeborene. Aber ich glitt weiter fort am Grund über Untergang, Tod und Verwesung. Verzeih mir. Einer wagte es gar, ihr zwischen die Schenkel zu greifen, doch riss ihn sein Gefährte weg. „Sie gehört dem Kapitän.“ Waren Heilmann und sie nicht auf einem Passagierschiff gewesen, als sie den Ärmelkanal überquerten? Dann begriff sie: Er hatte sie hier gelassen, damit das geschah. Ein Sprung durch die Zeiten und Kontinente. Auf einem Frachter vor Singapore...

Von weißbekittelten Männern mit Mundschutz wurde eine Puppe zu Heilmann hereingeschoben, deren ganzer Körper mit einem Tuch bedeckt war, das schmutzig braunrote Flecken aufwies. Nur die Füße sahen am Ende heraus. „Ein liebliches Opfer, meinen Sie nicht?“, fragte der Teufel.  Heilmann schwieg. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die einzelnen Zehen der Füße zu unterscheiden, doch ihre Fesseln waren außerordentlich schlank. Die muskulösen Männer schwitzten. Der Teufel klopfte ihnen anerkennend auf den Rücken. „Schwerer Fall.“ Hinter dem Mundschutz stieß einer hervor: „Die Nase ist zertrümmert.“ Der Dicke zog das Tuch bis zum Hals hinunter. Die Augen der Blondine waren aufgerissen und starrten entsetzt unter die Stahlträger des Dachs; ein Loch dort, wo die Nase hätte sein sollen, gab den Blick in das Innere des Kopfes frei. Heilmann erschrak jetzt doch, als er sich vorbeugte, um hinein zu schauen, denn wo Leere hätte sein sollen, krochen widerliche rosafarbene Maden hervor.  Tausche Gestalt und Namen, jungfräuliche Hoffnung. „Kommen Sie“, sagte der Teufel, „das ist uninteressant für sie. Ein dummer Schabernack. Sollte nicht passieren, kommt aber in den besten Organisationen vor. Ihnen aber, mein Herr, ging es um Blut.“ Er zog die nächste Plane vor Heilmann beiseite.

Im Port of Singapore wurden derweil auf der ´Sentosa´ die Messer gewetzt. „Wer schwimmen will, braucht nicht zu laufen.“, verkündete der Kapitän. „Zeig deine Füße vor.“ Der Melusine stiegen die Tränen in die Augen. Es wiederholt sich alles, doch ich gewöhne mich nie daran. Die Matrosen johlten in freudiger Erwartung. Sie versuchte, sich zu konzentrieren: Immergrüne Augen, Apfelbaumhaine, liebliche Jungfrauen...Vater...

Dann färbte das Wasser sich rot.


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