Montag, 19. September 2011

VORM ALTAR


In allen Regenbogenfarben schimmerten die Planen, die ein riesiges Forum für Heilmanns Augen bildeten. Achtreihige Tribünen rahmten die in den Boden versenkte Bühne in der Mitte. „Die Puppen“, stöhnte Heilmann. Da saßen sie in Reih und Glied, eine neben der anderen. Es waren nicht nur hochwertige Exemplare. Manchen hatte man die Beine brechen müssen, um sie zu setzen, da sie keine beweglichen Gelenke hatten. Alle waren sie nackt. Doch die Brüste  der allermeisten waren bloß als Formen vorhanden, ohne Brusthof und Warze. Selbst die etwas aufwendigeren blieben wenig detailreich und setzten bloß die Konturen immer gleich symmetrisch und weder besonders breit noch spitz, die Farbe der Nippel meist ein unnatürlicher Rosé-Ton, von dem Heilmann sicher war, dass keine weibliche Brust je so ausgesehen hatte. Gummipuppen hingen schlaff auf ihren Plätzen, manche waren mit Gurten befestigt, um sich einigermaßen aufrecht zu halten. Es war grotesk und furchterregend. Die idealisierten, beschädigten, perfektionierten, verstümmelten, vereinfachten, gelöcherten weiblichen Körper bildeten den hohlen Zuschauerraum für ein schauerliches Theater.

Alle Puppen mit ihrem irren Blick starrten auf die noch leere Bühne hinab. Heilmann dachte: Die Mutter. Was wir niemals bildeten, ist die Mutter. Schau dich um, dachte er. Wie wir die Gefährtinnen erdacht haben, uns zu Gefallen, ihnen zum Ideal und Spiel, schlank, auf Zehenspitzen, biegsam, geöffnet, verschlossen, keusch, geil, still. Vor allem still. Aber wir waren es doch nicht. Käthe Kruse, ich erinnere an Käthe Kruse! „Ach, seien Sie still, Heilmann. Sie wissen genau, wer damit begann, das Verbot zu brechen: Du sollst dir kein Abbild schaffen. Götzen. Spielmaterial. Unsere Herrschsucht. Sie brauchten das nicht. In ihrem Schoß liegt die Macht.“ Die unfruchtbaren Schöße der Puppen schienen sich dem Satz entgegenzustrecken. Doch das bildete Heilmann sich selbstverständlich nur ein.

Meine Füße...Die Blutschlieren im Wasser zogen hinter der Melusine ihre Fäden. Sie schnitten nie tief, die Matrosen von Singapore, nur oft. So oft. Sie tauchte tiefer. Warum hast du mich verlassen, Heilmann? Weil ich deinen Sohn zu mir nahm in dunkle Tiefe. Er wäre ohnedies sterblich geworden, Heilmann. Du bist sein Vater, doch sie wurde seine Mutter. Und ich. Alle sind wir, ganz gleich, welche du erwählst. Verstehst du das nicht? Er hatte die Kralle des Löwen als Zeichen auf seiner Wange, längst bevor er mich sah. Die aber ich nur sah und erkannte in ihm, dem Ewigen, meinen Sohn, meinen Geliebten, egal, den Immergleichen. Es war doch kein Entrinnen. Wie salzig die Flut meiner Tränen. Sie hörte auf zu weinen. Es war dunkel draußen, obwohl noch die Sonne schien. Es war dunkel und da war kein Singen mehr über der See. Denn ihre Stimme, für das dichte Wasser geschaffen, schmerzte sie nun sehr, an der dünnen, leeren Luft. Wir, Heilmann, hätten einander an den Händen halten und an der Reling stehen bleiben können, einen langen Blick über die Wellen werfend. Die Zeit vergeht und wir mit ihr. Was der Menschen Los ist, wäre uns Erlösung geworden. Doch warfen wir unsere Körper ins geile Getümmel. Warum bist du so zornig auf mich?

Auf den glänzenden Leibern der Puppen spiegelten sich die Farben der wogenden Planen, blau, lila, rot, orange, gelb, grün, türkis. Alles war ein einzig kunterbuntes Treiben auf den nudefarbenen Oberflächen der Puppenkörper. Eine Trage wurde von vier kräftigen Männern in weißen Priestergewändern hereingebracht, begleitet von einem Tusch. Heilmann meinte ein aufgeregtes Gemurmel von den Tribünen zu hören, doch als er nach den Puppen sah, starrten sie stumm gerade aus. Auf der Trage zeichnete sich unter einem weißen Laken der Körper einer Frau ab. Die Träger setzten ihre Last auf einem schwarzen Marmorpodest in der Mitte der Bühnengelasses ab und traten zur Seite. Der dicke Teufel schritt, Heilmann an der Seite, einen der diagonalen Seitengängen zwischen den Tribünen hinab. Vor der Bühne wies er Heilmann einen freigelassenen Platz in der ersten Reihe an. Er trat hinter den Altar und breitete theatralisch die Schwingen seines purpurnen Gewandes aus. Auf sein Zeichen zogen die Diener mit einem Ruck das Laken weg.

Da lag er, der vollkommene Frauenkörper, ohne jeden Makel, schneeweiß, mit runden Hüften und schmaler Taille, festen Schenkeln, schmalen Fesseln, entzückenden Füßchen, unbehaart die Scham, der Nabel wie ein seufzender winziger Krater, die Brüste wie zwei sanfte Hügel mit steiler Spitze, ein schwanenhafter Hals. Heilmann schrie. Allein, ihr weiter Mund mit den dünnen Lippen, die starken Nasenflügel, das Muttermal auf der linken Wange, die geschwungenen Augenbrauen über den geschlossenen, schuppigen Augenlidern. Der Kopf aber war kahlgeschoren. „Almuth.“ Der Kopf der Mutter meines Sohnes auf den Körper einer Puppe montiert. „Nein!“

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