Es geht alles durcheinander bei diesen beiden: Kronos & Chronos. Der eine zeugte Zeus und büßte es bitter an seinem Geschlecht. Der andere erstand vaterlos aus chaotischen Tiefen. Dem einen wurde die Sichel zum Verhängnis, mit der ihn sein Sohn entmannte, dem anderen zum Zeichen der Vergänglichkeit, das er mit sich führte wie eine Standarte. Als die Römer ihn in Saturn verwandelten und er am Himmelzelt erschien, wurde er zum Menschenfresser und Seelenverdunkler: Saturn frisst seine Kinder und die Melancholie sich ins düstere Herz der Finsternis.
Die Volksmythologie und in deren Gefolge die Kunst haben die mythischen Geschichten miteinander verwoben. Was liegt auf deren Grund? Die Angst des Mannes vor dem Verlust seiner Zeugungsfähgikeit, die väterliche Gewalt, die die Zukunft vernichtet, der Zorn der Jungen gegen die Alten, die sich dem Zeitlauf widersetzen, die Traurigkeit der Tochter, dass es so ist, wie es ist. Es geht um Vergänglichkeit und Tod, und darum, wie das Unausweichliche eingewoben wird in die Geschichten, die wir erzählen: als Kreislauf oder Fortschritt, als Einsicht in die Sinnfreiheit des endlichen Lebens oder als Aussicht auf Unsterblichkeit nach dem Gericht? Wer auf Zyklen setzt, kommt nicht vom Fleck: Alles wird anders und nichts ändert sich. Wer den Fortschritt wählt, steuert auf den Endpunkt zu: Apokalypse now. Der Volksmund (wie meistens) hat Recht: Mögen Kronos und Chronos an ihrem Ursprung zwei verschiedene Götter gewesen sein, längst hat sich in ihrem vereinten Bild die Frage verdichtet: Wie wollen wir uns in der Zeit denken?
Albrecht Dürer hat sein berühmtes Blatt „Melancolia I“ gewöhnlich gemeinsam mit dem „Hieronymus im Gehäuse“ verschenkt, als zwei Seiten einer Medaille sozusagen: die Erstarrung in der Rastlosigkeit einer beklemmend chaotischen Welt und die heitere Ruhe des Gläubigen in seiner Klause. Das Verlangen nach Gestaltung, die Suche nach dem Sinn, das Streben nach Erkenntnis können in die traurige Versenkung führen, aus der nichts mehr zu schaffen ist, aber auch zur sanften Klarheit des philosophischen Einsiedlers. Klibansky/Saxl/Panofsky haben in ihrer Studie „Saturn und Melancholie“ gezeigt, wie Dürers „Melancolia“ selbst das ikonographische Material in die Ambivalenz zwischen zyklischer Wiederkehr, Fortschreibung und Verkehrung versetzt. Was Dürer darstellt und seither immer wieder Betrachter fasziniert, ist ein Moment der Einsicht in die eigene Beschränkung, eine Traurigkeit, die sich nur einstellt, wenn die Träume hochfliegend und das schöpferische Verlangen anmaßend sind. Ein romantisierender Blick hat diese Sicht schon im 19. Jahrhundert profanisiert und massentauglich gemacht: Womit Dürer noch der Trauer über die Unzulänglichkeit des Menschen in einer ihm letztlich unbegreiflichen Welt Ausdruck verleiht, wird nun zum Bild einer individuellen Befindlichkeit: der Sehnsucht nach einer Flucht aus der Welt.
Schon Dürers Stich reflektiert, wie viele Interpreten meinen, die Vergänglichkeit der Kunst selbst. Doch er stellt dieses Bewusstsein in einem Kunstwerk dar, das in sich geschlossen ist und vorstellt, was überzeitlich gilt. Dürers Kunstschaffen ist eingebunden in den Glauben an eine kosmisch-göttliche Ordnung, die sich lediglich dem menschlichen Geist nicht vollkommen erschließt. Der (schöpferische) Mensch kann scheitern, aber die Welt nicht untergehen. Auch Melancholia bleibt ein trauriges und schönes Geschöpf des allwissenden Schöpfers.
Gut zweihundert Jahre später tritt Melancholias doppelgestaltiger „Vater“ Chronos/Kronos in zwei Stichen William Hogarth´ am Ende seiner Karriere auf. Jede Idee der Wiederkehr, der überzeitlichen Gültigkeit, der Hoffnung auf Teilhabe an ewiger Ordnung ist aus diesen Darstellungen gewichen. Wenn Dürer mit der Tradition ambivalent umgeht, sie aber doch in seinem Bild zu einem Ganzen verbindet, so stellt Hogarth die Elemente ikonographischer Tradition disparat als Zitate geradezu aus: Statt dem Bild überzeitlichen Wert zu verleihen, historisieren sie die Tradition selbst und weisen sie als Teil eines unwiderruflich Vergangenen aus.
In dem einem Stich zeigt Hogarth Chronos, den Gott der Zeit, in seiner geflügelten Gestalt als Greis mit Bart, Stirnlocke und Sense, wie er auf einer zerbrochenen Statue vor der Staffelei sitzt und das Bild mit seiner rauchenden Pfeife schwärzt. Die Sense hat die Leinwand durchstoßen. Der Stich bezieht sich in der Bildunterschrift auf eine Veröffentlichung im „Spectator“, in der dem weisen Chronos eine verschönernde Wirkung auf die Kunst zugeschrieben wird. Hogarth dreht die Bedeutung um: Der schmauchende Chronos geht gar nicht weise mit dem Kunstwerk um. Vordergründig ist dies wieder einmal eine Parodie Hogarth´ auf die Händler in „dark pictures“, die mit dem – vorgeblichen? – Alter ihrer Gemälde ein Geschäft machen. Das Chronosmotiv knüpft zugleich noch an eine weitere Tradition an: In Frontispizen wurde, in Anlehnung an Horaz, die bewahrende Kompetenz von Literatur und Geschichtsschreibung gegenüber der an Materialität gebundenen bildenden Kunst, die der Zerstörung durch die Zeit ausgesetzt ist, behauptet. Während die Verwendung des Motivs in Büchern, die damit sich selbst als überlegenes Medium feiern, wohlfeil ist, wird sie in Hogarth´ Darstellung zum Einspruch des Bildes gegen sich selbst. Chronos hat auf diesem Bild die Stelle des Malers (Hogarth eigenen Platz) eingenommen. (Die Parallelität der Bildkomposition zu „Hogarth painting the comic muse“ ist augenfällig.) Der Künstler selbst – und die künstlerische Tradition – vernichten sein Werk.
Noch deutlicher wird die Selbstvernichtungstendenz in Hogarth´ allerletztem Stich: "Tailpiece or The Bathos" von 1765. Es ist eine Parodie auf die hohe, die erhabene, die „sublime“ Kunst, wie Burke sie mit einem neuen Begriff nennt. Nun stirbt Chronos selbst. Ermattet liegt er da und haucht (in einer der erste „Sprechblasen“): FINIS! Das Blatt diskutiert in allen seinen Details noch einmal die ästhetischen Kategorien, um die Hogarth sein ganzes Arbeitsleben hindurch gestritten hatte. Der Kunstfeind Zeit, gegen den er gekämpft hatte, und der alternde, sterbende Maler sind nun identisch geworden. Der radikale Gegenwartsbezug, auf den er gesetzt hatte, stellte sichals kunstfeindliche Tendenz seiner eigenen Kunst heraus. Die Zeiten für seine Idee von Kunst waren vorbei, so schien es: ein Kunstbegriff, der statt auf Aktualität und Dialog auf Zeitlosigkeit, Originalität und Autonomie setzte, hatte sich – zunächst mal – in der bürgerlichen Gesellschaft durchgesetzt. Noch mit diesem letzten Blatt, das ein Eingeständnis seines Scheiterns ist, hielt Hogarth jedoch an seiner Idee einer „diskutierenden Kunst“ fest. Unter dem Blatt, das Chaos und Ermattung darstellt, richtet er noch einmal den konischen Kegel der „Analysis of Beauty“ auf, umschlungen von der schlangenhaften Schönheitslinie. Während er jedoch die – parodierte – Erhabenheit im Körper eines geschlagenen Mannes ausdrücken konnte, stellte sich die Schönheit nur noch abstrakt als bloße Form her.
Mit Melancholia erschlossen sich die Romantiker – über Dürer hinaus – nicht nur die Momente des Selbstzweifels und Verzweifelns an den Schranken menschlichen Gestaltungs- und Einsichtsvermögens, sondern die Tür in die phantastisch zeitlosen Reiche der Sehnsucht, die sich weithin erstrecken können in die unwiederbringliche Vergangenheit und hinaus in die unerreichbare Zukunft. Doch das Ende naht. Denn „der erhabene Tiefsinn“ war eine Position bürgerlichen Kunstschaffens und bürgerlicher Kunstrezeption, die das Kunstwerk dem Reich der Warenwelt noch einmal zu entziehen suchte – und dazu auch den Künstler als auratisch-genialische Figur brauchte. Wir aber leben als Konsumisten der Echtzeit. Es geht Kronos ans Gemächt. Dauernd. Aller Zorn verpufft folgenlos in der Timeline. Morgen bläst ein anderer Shitstorm. Schon die Gegenwart ist gleich vergangen.
Zeit?– Ja, Zeit, .... die Linie wieder in eine Schlange zu verwandeln. Permanenter Präsens. Feuer speiend. Nicht erhaben, sondern lachend. "Und doch lacht ihre Traurigkeit über alles"? Nicht drüber weg, sondern drunter durch. Oder so.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen