Donnerstag, 29. Dezember 2011

PUNK PYGMALION (22): Vaterlos

Fortsetzung der Brief- und Blogromans: PUNK PYGMALION (hier:)



Kurz vor Weihnachten im letzten Jahr erzählte mir Emmi am Telefon, wie gedemütigt sie sich fühle, nach der Trennung  von  Björn, Weihnachten wieder „daheim“ mit ihrer Mutter verbringen zu müssen. Ihr Liebhaber Ansgar, sagte sie, sei über die Feiertage natürlich bei seiner eigenen Familie. Das war alles gelogen. Sie war nicht mit Ansgar zusammen,  aber sie spielte mir den Schauder und das Flirren der ersten Verliebtheit glaubhaft vor. Oder war sie tatsächlich verliebt zu jener Zeit in den anderen „Ansgar“, den jungen Mann, der ihm so ähnlich sah, mit dem sie Monate später in Südfrankreich auftauchte? 

Ich lese Majas Brief immer wieder und habe das Gefühl, diese Frau, mit der ich einmal telefoniert und ein paar Mails getauscht habe, besser zu kennen und zu verstehen als meine langjährige Freundin Emmi. Björn hatte am Ende unseres Gesprächs über seine gescheiterte Ehe gesagt: „Seit sie gegangen ist, wird mir immer mehr klar, dass sie nie da war.“ Emmis Auftritte erscheinen im Rückblick geisterhaft, ein durchscheinendes Schweben im Raum, das keine Spuren hinterlässt, nur ungläubiges Erschrecken. Ich kann das bei allen beobachten, die Emmis Verschwinden trifft: bei Björn, sogar bei ihrer Mutter und auch bei mir selbst. Erstaunt und empört erkennen wir, dass wir eine Fata Morgana gesehen haben, ein Spiegelbild unserer Wunschträume, das sich ins Nichts auflöst. Sie hat uns benutzt, um dieses Lügengebilde zu errichten, sie hat uns fallen lassen, ohne jede Erklärung und sie ist gegangen ohne Abschied.

Doch von mir will sie noch immer etwas. Aus dem Schatten heraus verlangt sie danach, dass ich ihre Geschichte mit Ansgar hier im Blog  erzähle. „Du musst mir ein Happy End schreiben, diesmal“, hatte sie schon ganz am Anfang immer wieder gefleht. Ich fühlte mich überfordert und verzögerte die Veröffentlichung. Das machte sie zornig. Ich muss meinen Gefühlen mehr  vertrauen. Sie waren richtig, auch wenn ich die Ursachen nicht verstand.  Denn inzwischen bin ich sicher, dass es Emmis „Happy End“ selbst ist, das ich mit Grund fürchte.  Sie erleichtert sich, indem sie mich belädt mit ihrer Schuld. Die drückt  schon schwer auf mich, obwohl ich immer noch nur ahnen kann, worin sie besteht.

Majas Brief liegt vor mir; seit Tagen überlege ich, wie ich seinen Inhalt hier wiedergeben kann, ohne Maja zu verraten, die nicht erkannt werden will. Ich habe eine Legende für Ansgar erfunden, Namen, Orte und Ereignisse, die nicht ganz passen wollen, zu dem was Maja schreibt. Per Mail habe ich ihr einen Entwurf meiner Veränderungen geschickt und sie hat sie abgesegnet. Doch sie fügte den Rat hinzu: „Stellen Sie es als Brief ein, auch wenn es Ihr Text ist. Es liest sich besser so.“ Das stimmt. Während ich also noch einmal umformuliere, überlege ich, warum Maja mir wohl diesen Brief mit der Hand schrieb, während wir doch sonst problemlos über Mails korrespondierten.



                                                                                                Hamburg, Dezember 2011
Liebe M.,


Sie schreiben mir und wollen wissen, in welcher Beziehung ich zu Ansgar P. gestanden habe. Eine sonderbare Frage ist das, nach all den Jahren, wie ein sehr leiser Ton, der von ganz weit herüber klingt, kaum zu vernehmen,  aus einer Zeit her, an die ich mich nur noch schwach erinnern kann. Ich kannte Ansgar P. kaum. Dennoch ist es wahr, dass ich ihn nie wieder losgeworden bin, denn ich habe seinen Sohn geboren und aufgezogen.  Schon das zu schreiben, scheint falsch: „seinen Sohn“. Es ist nie „sein Sohn“ geworden - oder gar „unser Sohn“. Ansgar hat den Jungen nur zweimal gesehen: einen Tag nach der Geburt und noch einmal im Frühjahr 1984, bevor er zu seiner Reise nach Süden aufbrach, von wo er nicht mehr zurück kehrte, soweit ich weiß. Ich habe ihn nicht vermisst.

Er war sehr beeindruckend; das stimmt trotzdem. Klobig, zornig und sehr cool. Auf unserer Schule war er einer der ersten Punks. Ein Einzelgänger, aber kein Außenseiter, einer der auffiel und das auch wollte, umschwärmt und begehrt von den Mädchen, aber, zumindest kam es mir so vor, unerreichbar. Vielleicht war ich schon vor jener Party ein wenig aus der Ferne in ihn verliebt. Er war zwei Jahre älter als ich und ich kannte einige aus seinem Jahrgang. Irgendwann standen wir zusammen in einer Runde; er stieß seine Bierflasche an meine und nannte mich „Süße“. Er hatte diese Pranken, riesige Hände, die dennoch ganz geschmeidig wirkten. Sein ganzer Körper war dauernd unter Hochspannung, zum Sprung bereit, obwohl er so groß und massiv wirkte. Er sprach davon, wie kaputt er alles fand, wie sehr er weg wollte, zu seinem Vater vielleicht nach Kopenhagen und dass er Steine hauen wollte. Es faszinierte mich, alles, obwohl ich ihm nicht richtig zuhörte. Mich törnte dieses Heftige, Krasse, Herbe an ihm an, dass er keine Angst zu haben schien und sich nicht drum scherte, was andere dachten. Ich stand mit dem Rücken zur Wand, an der er sich abstützte. Sein Mund war schließlich in meinem Haar, seine andere Hand unter meinem Pulli. Ich hatte noch nie mit einem Jungen Sex gehabt. Aber ihn wollte ich total an diesem Abend . Ich drängte meinen Unterleib an seinen und hob meinen Kopf, um den Mund für seine Zunge zu öffnen. Sogar heute noch wird mir heiß, wenn ich an diese Nacht denke. Er war dann sehr zart in der Gartenhütte meiner Eltern, wohin ich ihn führte. Ich weiß nicht, wieviel Erfahrung er hatte, doch er machte es gut. Wie gut, konnte ich erst später erkennen, als ich Vergleiche hatte. Man kann schon sagen, dass ich mich mit ihm entdeckte.

Mir war klar, dass er sich nicht binden wollte. Obwohl ich nicht wirklich zugehört hatte, kam die Botschaft an: Er wollte weg, nichts konnte ihn halten.  Trotzdem machte ich mir natürlich etwas vor. Ich hoffte, er würde mich mitnehmen wollen, wohin auch immer. Das war aber nicht so. Wir trafen uns noch einige Male. Er wirkte geiler da, weil er etwas weniger Rücksicht auf mich nahm. Das machte mir noch mehr Hoffnung, weil ich mir einbilden konnte, er begehre mich. Aber da war nichts. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er mich je danach fragte, was mich interessierte oder was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Nach den Abi-Prüfungen soff und kiffte er sich ein paar Tage lang fast bewusstlos. Dann gab es einen Ruck und er hatte sich entschieden: Er ging nach Dänemark zu seinem Vater, denn auf die Bundeswehr oder die Scheiß-Gewissensprüfung, wie er sagte, hatte er keinen Bock. Und das war es. Oder: Das wäre es gewesen, wenn ich nicht einige Wochen nach seiner Abreise festgestellt hätte, dass ich schwanger war.

Ich schrieb ihm davon. Er antwortete nicht. Ich versuchte ihn telefonisch zu erreichen. Das klappte nicht. Schließlich ging ich zu seiner Mutter. Sie glaubte mir erstmal nicht. Aber er bestätigte es ihr dann. Sie riet mir zur Abtreibung. Meine Eltern wussten da noch nichts davon. Ich war unentschlossen. Es fühlte sich falsch an. Ich hoffte immer noch, er würde plötzlich seine Liebe zu mir entdecken. Mama, Papa, Kind. Schließlich musste ich doch mit meiner Mutter sprechen. Sie war so wütend auf „diese Drückeberger“ und bestärkte mich darin, das Kind zu bekommen. Ich schrieb ihm das, aber er meldete sich nicht mehr. Irgendwie erfuhr er aber von der Geburt. Er kam tatsächlich aus Kopenhagen angereist, hatte sogar unten beim Blumenhändler im Krankenhaus einen Strauß besorgt. Wir hatten uns nichts zu sagen. Meine Mutter jagte ihn aus dem Zimmer.

Aus Kopenhagen meldet er sich nie bei mir. Manchmal redeten Freunde über ihn, die ihn dort besucht hatten. Sie erzählten, dass er sein Studium hinschmeißen wolle, dass er Skulpturen mache, wie er es sich vorgenommen  hatte. Auch vom Tod seines Vaters erfuhr ich durch irgendjemanden, genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Anfang Juni 1984 kam er zu Besuch. Er wirkte verstört, aber gab sich große Mühe, Interesse zu zeigen. Einmal bildete ich mir sogar ein, dass er weinte, als er den Kleinen beobachtete. Aber wir redeten nicht viel. Vielleicht hätte ich ihm mehr Druck gemacht, wenn ich gewusst hätte, wieviel Geld er von seinem Vater geerbt hatte. Doch ich war inzwischen ganz sicher, dass ich auf keinen Fall mit ihm leben wollte. Seine ganzen Krisen, dies Aufbrausende, Hektische, Unstete waren mir fremd und abstoßend geworden. Ich wollte Geborgenheit für mich und mein Kind. Das hatte ich zuhause bei meinen Eltern. Er störte da nur. Als er abreiste, sagte er, er wolle sich um das Kind kümmern. Ich glaubte ihm nicht.

Wochen später erfuhren wir durch einen Anwalt, dass er eine große Summe auf einem Konto für Lars angelegt hatte, die ich verwalteten sollte, bis Lars volljährig wäre. Aus Spanien schickte er mir Ende Juli einen Umschlag mit einem Skizzenbuch; Entwürfe für Skulpturen, Zeichnungen der Landschaft dort unten,  nichts Persönliches, kein Brief an mich oder Lars, nur ein Zettel oben auf: „Das ist für Lars, wenn er alt genug ist.“  Danach hörte ich nie wieder von ihm. Seine Mutter rief mich im Herbst einmal an, um zu fragen, ob ich von ihm gehört hätte. Später gab sie wohl eine Vermisstenanzeige auf. Ich dachte, er habe sich abgesetzt. Das hatte er immer vorgehabt: Einfach verschwinden, ganz anders leben, sich befreien.

Ich arbeite an der Rezeption eines Hotels in Hamburg, nunmehr seit über 20 Jahren. Inzwischen bin ich stellvertretende Hotelmanagerin. Mein Mann, den ich heiratete als Lars 8 war, arbeitet auch in diesem Hotel. Wir beide haben mit Kunst nichts am Hut. Sonderbar deshalb, dass Lars Bildhauer werden will, wie sein leiblicher Vater. Er hat irgendwann angefangen, immer öfter in Ansgars Skizzenbuch zu blättern. Die Ideen, die er dort gefunden hat, will er verwirklichen. Er studiert jetzt Bildhauerei in Berlin. Ich liebe meinen Sohn, aber ich verstehe ihn nicht, so wenig vielleicht, wie ich seinen Vater verstanden habe. Auch in Lars steckt so ein heftiges Drängen, doch ich glaube, wir haben ihm mehr Substanz und mehr Vertrauen geben können. Jedenfalls hoffe ich das.

Von einer Emmi habe ich vorher nie gehört. Der Mann, den sie liebte, ist aber zweifellos Ansgar, der Vater meines Sohnes. Ich kann Ihnen nicht sagen, was im Sommer 1984 bei Barcelona zwischen den beiden geschah. Von Ansgar habe ich wenig gewusst und obwohl mein Sohn ihm „nachschlägt“, wie man so sagt, weiß er noch weniger über seinen Vater als ich.

Daher bitte ich Sie, uns nicht in diese Geschichte hineinzuziehen. Ansgar war kein durch und durch schlechter Mensch, glaube ich, aber er wollte kein Vater sein und mein Sohn ist gut ohne ihn zurecht gekommen. So soll es bleiben.

Herzliche Grüße

Maja S.


Sie werden verstehen, liebe Leser:innen, dass ich versuchen muss, Kontakt zu Ansgars Sohn herzustellen.             

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