Ein Beitrag von MOREL
Nach mehr als tausend Seiten Lektüre sind wir im letzten Absatz wieder in der Wohnung in Frankfurt-Bockenheim, wo der Erzähler mit seiner Frau Sibylle und der gemeinsamen, vor kurzem 3 Jahre alt gewordenen Tochter Carina lebt. Peter Kurzeck wird von der Kritik oft mit Marcel Proust verglichen (wie jetzt auch Andreas Maier, sein hessischer Kollege: das wiedergefundene Combray in der Wetterau und Handkäs und Apfelwein an Stelle von Keksen und Tee). In seinen Romanen wird viel erzählt, es geschieht aber wenig. Seit kurzem sind diese Texte Teil eines Romanzyklus, der zwölf Romane umfassen soll (wie der nun in einem ganz anderen Milieu spielende Zyklus A dance to the music of time ebenfalls, ein Werk das mit Kurzeck eines aber teilt: ein Interesse an der ewigen Wiederkehr der Jahreszeiten und die analoge Faszination für die Unwiederbringlichkeit des Moments). Ina Hartwig hat in einer Rezension in der Zeit mokant notiert, dass der Vergleich mit Proust Kurzeck jetzt schon dazu verführt habe, Madeleine-Kekse in sein Romanwerk zu schmuggeln. Dagegen wehrt sich die Proust-Liebhaberin: Proust sei böse und politisch brisant, bei Kurzeck werde die Vergangenheit dagegen idealisiert. Soweit ich mich erinnern kann, fällt sogar das böse Wort, vom Opa, der aus dem Krieg erzähle.
Bei Proust aber geht es im Kern nicht um eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Gesellschaft, sondern im Grunde pessimistisch um die Unmöglichkeit sich als Individuum in seiner Zeit zu erhalten. Darum ist die Erinnerung ja unwillkürlich, weil sie dem Erinnernden nicht verfügbar ist, sondern ihm nur zufällig zustößt. Der Roman soll dann diesen Zufall in künstlerische Notwendigkeit verwandeln, das aber erst im Nachhinein, am Ende eines letztlich gescheiterten Lebens. Zufällig und unwillkürlich ist die Erinnerungsarbeit Kurzecks nun gerade nicht. Es ist eine magische Beschwörung von wenigen Momenten im Leben, die nicht vergessen werden sollen: ein Nachmittag bei Freunden in Frankfurt-Eschersheim, an dem der Erzähler nicht zu erzählen aufhören kann und daher immer wieder gegen die eigene Müdigkeit ankämpft; ein Gründonnerstag bei seinem Schwager in Lollar am Vorabend eines langen Wochenendes, wenn der Zwang, am nächsten Tag arbeiten gehen zu müssen, einmal endlich aufgehoben ist; ein Nachmittag, an dem der Erzähler einmal früher von der Arbeit nach Hause aufbricht, schon in Lollar aussteigt, mit einem Buch in einem Wirtshaus einkehrt und dann zu Fuß nach Staufenberg, seinem Heimatort, geht. Diese Erinnerungen machen aber kaum die Hälfte der zahlreichen Seiten von Vorabend aus. Kurzeck versucht die "ganze Zeit" zu erzählen: wie die kleinen Geschäfte von großen Supermärkten abgelöst wurden; wie aus Schotterwegen Autobahnen wurden; und, auch wenn es nicht nur Ina Hartwig, sondern selbst den allergeduldigsten Leser, meine Wenigkeit, nervt: wie Frösche, Igel und Schwalben aus der Umgebung von Staufenberg verschwanden. In diesen Passagen weiß Kurzeck naturgemäß, woran Igel denken, wenn sie eine Straße überqueren, oder er phantasiert über einen Büroangestellten, der in seiner Mittagspause über den Gießener Ring fährt und Pläne für einen Amoklauf hegt. Einige Paare werden geschildert wie in den Mitt-Sechziger-Filmen von Godard, entfremdete Leben, die sich nur in Werbung und Schlagern ausdrücken können. Dazwischen gibt es immer wieder Seiten reiner Prosa, atemberaubend gut geschrieben, eine Technicolor-Natur als Gemeinschaftsproduktion von Friedrich Hölderlin und Georg Trakl: die Sonne über dem Massa-Markt Lollar Süd.
Ist Kurzeck also der hessische Proust? Eher nicht. Es geht ihm wie vielen Schriftsteller dieser Tage nicht um die lange Zeit der schleichenden Veränderung (selbst wenn sein Buch von nichts anderem zu handeln scheint), sondern um den Moment des Umschlags. Seine letzten Bücher handeln von kurzen Zeitabschnitten in den Achtziger Jahren, Vorabend spielt an einem Abend, an dem er einen Anruf von seinen nach Frankreich verzogenen Freunden verpasst. Er erinnert sich an das letzte Wochenende mit ihnen, an dem er von der Gegend erzählte, in der er aufgewachsen ist. Dabei wird zwar kulturkonservativ die Zerstörung von Natur und Tradition verzeichnet, aber aus der Perspektive eines Erzählers, der in dieser Natur und Tradition schon immer fremd war. als hinzugezogener Flüchtling, aber auch als nicht anerkannter Schriftsteller, dem die Zeit davonläuft, weshalb seine Sätze atemlos und abgebrochen aufeinander folgen. In seiner rauschhaften Obsession, in der immer wieder wiederhergeholt werden muss, was sonst verloren zu gehen droht, schlägt das Erzählen von Peter Kurzeck Luftwurzeln: die im Grunde unvertraute Heimat wird im Erzählen erst erfunden. Daher auch die glückliche Nähe zu mündlichen Erzählformen (Vorabend entstand als öffentliches Diktat im Literaturhaus Frankfurt). Pop ist Peter Kurzeck also nicht, weil er aufzählt und archiviert, was einmal war (Automarken, Tiere, ein Kinofoyer, Werkzeuge, Garagen, Straßennamen usw.), sondern weil es die Gegenwart des Erzählens (und nicht die Nachträglichkeit des Schreibens) ist, die seine Romane feiern.
Peter Kurzeck muss man hören, finde ich. So habe ich ihn das erste Mal 2004 oder 2005 in der Freiburger Buchhandlung Schwarz erlebt. Von dem daraufhin angeschafften Buch war ich enttäuscht. Ihn zu lesen, nervt und langweilt mich großenteils, aber er ist ein grandioser Erzähler (als Sprecher), ich höre ihn am liebsten beim Bügeln, man kann im Grunde keinen Faden verlieren, und um seine Intention gebe ich wenig, seit er mir 2007 beim Podiumsgespräch im Schlossbergsaal mit Ilja Trojanow schlagartig furchtbar unsympathisch wurde. Es ging um Leben und Schreiben in der Fremde. Kurzeck erzählte von seinem Haus in Frankreich, seinem Schreiben dort und warum er sich weigere, Französch zu lernen: Er brauche ein großes Maß an Fremdheit und Einsamkeit, um über sich schreiben zu können. Soweit nachvollziehbar für mich. Daraufhin wurde er von Ilja Trojanow, dem mehrere Sprachen Beherrschenden und ins Innere anderer Kulturen Tauchenden, gefragt, was denn die Franzosen im Dorf davon hielten. Kurzecks Antwort lautete: Da gibt es keine Probleme, die verstehen auch so, was ich will. Er hatte Trojanows Frage völlig missverstanden und aus einer narzisstischen Haltung heraus geantwortet, die sich umso deutlicher zeigte, als sie sich so stark von der Haltung Trojanows abhob. Leider wurden keine Einwürfe aus dem Publikum zugelassen, und die Moderatorin wechselte blind zum nächsten Punkt, sodass dieses Missverständnis nicht mehr thematisiert werden konnte. Ich hege seitdem eine - vermutlich kleinliche - Abneigung gegen die Person Peter Kurzecks, lausche aber nach wie vor gerne dem Erzähler.
AntwortenLöschenVielen Dank, liebe Iris, für diese aufschlussreiche Anekdote. Um solche Erfahrungen zu vermeiden, leae ich die Bücher lieber, als dem Autoren im Literaturhaus zu lauschen. Der Text öffnet halt immer noch andere Perspektiven. An Kurzeck dann ja auch interessant: wie er zu sprechen beginnt, weil er mit dem Schreiben nicht aufhören kann. Ich habe erst zwei Bücher wirklich gelesen und dabei ging es mir wie mit Jazz, nach einer Weile hatte ich mich in den Sound eingehört und dann war es ein Vergnügen.
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Noch nirgendwo (in keinem Film, in keinem Buch, in keiner Erzählung) habe ich die Wirtschaftswunder Nachkriegszeit so plastisch berichtet bekommen, dass ich beinahe das Gefühl hatte, sie selbst zu erleben. Vielleicht als Igel, der nur um von Peter Kurzeck beschrieben zu werden, über die Straße zieht.
AntwortenLöschenVielleicht auch das Paar, das im Seltersweg einkaufen geht. Oder der Weinwirt, der von seinen Fahrten zu Winzern erzählt. Und natürlich auch der Schwager, der müde von der Arbeit bei Buderus nach Hause geht. Die Kinder, die im Sommer die Frösche nachmachen. Es ist wenig Handlung in diesem Buch, aber viel Welt. Und dazu gehört auch der mich zivilisationsverdorbene Natur ärgernde Igel. Vielen Dank, liebe Weberin, dass Sie mich mit Ihrer schönen Hommage daran erinnert haben.
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