Samstag, 4. Februar 2012

Dritter Advent (2): GEHEN UND BLEIBEN (11. Folge von: FRAUENSACHEN)




So zu viert zusammengesessen hatten sie zum letzten Mal vor mehr als einem dreiviertel Jahr. Da hatten sie noch nicht gewusst, wie krank Judith war und dass sie sterben würde.
„Jede muss sterben. Das wussten wir immer. Wir haben es nur verdrängt.“, sagte Judith, als habe sie die Gedanken der anderen gehört. „Guckt nicht so bedrückt. Ich wünsche mir, dass das ein schöner Nachmittag wird.“
Manuela legte ihr die Hand auf die Schulter. Der Knochen stieß spitz hervor. Sie strich eine Falte aus dem weichen grünen Seidenkleid.
„Du siehst schön aus.“
„Danke. Du siehst auch gut aus.“
Manuela war wie immer lässig gekleidet, Jeans und Hemdbluse darüber. Aber ihre kurzen Haare waren modisch mit Gel gestrubbelt und sie hatte sogar ein wenig Rouge aufgelegt. Außerdem wirkte sie strahlend, leicht und heiter, trotz der Traurigkeit, die auch in ihr Judiths körperliche Schwächung auslöste.
„Ich bin verliebt.“
Elke verschluckte sich beinahe an ihrem Adventstee.
„Du?“
„Haste gedacht, das könnte mir nicht passieren? Es ist nicht das erste Mal, liebe Elke.“
„Aber lange her, zumindest dass du mir davon erzählt hast.“
„Ja, ich habe mir´s nicht mehr erlaubt seit...“ Sie sah Judith an. Die lächelte wehmütig.
„Seit ich dich verraten habe.“
„Du hast mich nicht verraten. Du liebtest mich nur nicht auf diese Weise.“
Gabi sah von einer zur anderen.
„Worum geht es hier?“
„Das ist lange her.“
„Wer ist es denn? Und wie kommt dein Mann damit klar?“, fragte Elke.
Gabi wollte ihre Frage wiederholen, aber Elke stoppte sie mit einer Handbewegung.
„´Es ist kompliziert´, würde man wohl bei Facebook angeben. Es gibt niemanden und ich glaube, es wird auch nie jemand anderen geben, bei dem ich mich so geborgen fühle, wie bei ihm. Wir werden immer zueinander gehören, hoffe ich. Aber ich habe ihn nie so begehrt, wie...“
„Wie Judith?“, Gabi konnte einfach nicht aufhören nachzuhaken.
„Genau. Nie so wie Judith. Und andere Frauen. Danach. Davor. Eigentlich habe ich immer Frauen begehrt. Aber ihn habe ich geliebt. Ihn liebe ich. Deshalb habe ich mir was vorgemacht. Immer wieder. Dabei wäre es so einfach gewesen.“
„Es ist ihm recht, dass du eine lesbische Beziehung hast?“ Gabi staunte.
„Es ist ihm recht, dass ich glücklich bin. Und diese Frau macht mich verdammt glücklich. –Und geil!“ Manuela lachte.
„Lernen wir sie mal kennen?“ Elke war neugierig.
„Vielleicht. Es ist noch frisch.“
„Und ihr bleibt zusammen, dein Mann und du?“ Gabi konnte das immer noch nicht fassen.
„Klar. Das ändert nichts an unseren Gefühlen für einander.“
„Und Sex?“
„Haben wir weiterhin. Ohne Eindringen.“, Manuela lachte wieder. „Wie gehabt.“
„Und die Frau? Für die ist das auch o.k.?“
„Bis jetzt.“ Manuela wurde ernst. „Das weiß ich noch nicht, wie das weitergeht.“
Die Freundinnen schwiegen einen Moment.
„Elke hat sich von ihrem Rosenkavalier getrennt.“, verriet Judith schließlich.
„Dem schönen, jungen, sexbesessenen? Warum das denn?“
„Vielleicht eben deshalb.“ Elke zog Gabi ein wenig auf.
„Schon einer Neuer in Sicht?“ Gabi konnte es nicht lassen, ein wenig zu sticheln. Aber Elke ging nicht darauf ein.
„Diesmal nicht. Ich hoffe, wir bleiben Freunde. Ich bemühe mich drum.“
„Das wäre allerdings neu.“ Da war ein wenig Schärfe in Gabis Stimme.
„Er ist nett. Sehr jung, sehr leidenschaftlich, sehr am Boden zerstört. Er wird es verstehen und etwas lernen.“ Judith bemühte sich, die Klippe zu umschiffen.
„Und du? Hast du mit deinem Ex wenigstens mal telefoniert?“
„Nein. Habe ich nicht. Ich weiß, dass du meine Entscheidung missbilligst, Gabi. Das tut mir leid.“ Judith sprach sehr leise.
„Ich verstehe es einfach nicht. Er liebt dich.“
„Ich liebe ihn auch. Aber wir haben es nicht geschafft. Wir sind einander nicht nah gewesen, als es darauf ankam. Ich kann die Nähe dieser Fremdheit jetzt nicht ertragen.“
Wieder schwiegen sie alle vier für eine Weile.
Gabi seufzte schließlich.
„Mein Beziehungsstatus´ hat sich auch geändert.“
„Was?“, Elke reagierte am schnellsten.
„Ich bin wieder Single. Wobei ihr das ´wieder´ im Grunde weg lassen könnt. Als erwachsene Frau war ich noch nie Single.“
„Bist du ausgezogen?“
„Ja, seit drei Wochen lebe ich in meiner eigenen Wohnung. Es fühlt sich erstaunlich gut an. Ich vermisse nichts, bis jetzt. Und ich habe mich auch noch nicht bei Elite-Partner angemeldet.“ Sie sah provozierend zu Elke hinüber.
„Elite-Partner...“, Elke wollte schon darauf anspringen, doch dann traf ihr Blick sich mit Gabis und sie musste lachen.
„Mich freut das für dich. Ehrlich.“
„Wisst ihr, was mir grade auffällt? Wir sind kinderlos. Alle vier. Nur deshalb können wir uns das leisten. Das Kreisen um den ´Beziehungsstatus´ wie Twens. Einfach gehen und die Tür  hinter uns zu machen.“
„Frauen mit Kindern trennen sich auch.“
„Entdecken, dass sie lesbisch oder bi sind.“
„Verlassen ihren jüngeren Lover.“
„Das stimmt. Aber einen Mann, mit dem du ein Kind hast, den kannst du nie ganz hinter dir lassen. Den wirst du nie wieder los. Selbst wenn du keinen Kontakt mehr hast.“
„Wahrscheinlich hast du Recht. Ich habe noch nie so darüber nachgedacht.“
„Ist das ein Privileg oder eine Bürde?“
„Dass wir uns entscheiden können und müssen - ohne Rücksicht auf Kinder zu nehmen oder vorzuschützen?“
„Ich hätte gerne Kinder gehabt. Ich hatte so viel Glück. Einen Beruf, in dem ich gut bin. Einen Mann, der mich liebt und den ich begehre. Ein Einkommen, das ein wenig Luxus erlaubt. Aber in diesem einen Punkt, der für mich wesentlich war, ist mein Leben missglückt.“
Sie sahen Judith an. Ihre Augen waren trocken, nicht eine Spur von Feuchtigkeit. Sie hatte das ganz sachlich gesagt, ohne einen Hauch von Selbstmitleid. So wog es noch schwerer.
Elke nahm Judith in den Arm.
„Gute Freundinnen. Auch damit hast du Glück. Und du bist ein Glück für mich.“

Sie rückten auf dem Sofa um Judith zusammen und drückten sich. Noch lange saßen sie später zusammen, ratschten, lästerten, lachten und aßen. Sie empfanden Freude daran, so unterschiedlich zu sein und einander so nah heranzulassen.

Die Missverständnisse und unterschwelligen Vorwürfe, die ihr letztes Treffen zu viert dominiert hatten, waren verschwunden. Judiths Sterben hatte sie alle dazu gebracht ehrlicher zu sich selbst zu sein. Sie wussten nicht, wohin ihre Entscheidungen sie führen würden. Sicher war nur, dass Judith das nicht mehr erleben würde.

„Aber Weihnachten, Weihnachten schaffe ich noch.“, sagte sie zum Abschied.

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