Ich hatte Angst. Den ganzen Samstag drückte ich mich davor, die Mobile-Nummer zu wählen, die ich von Lars´ Kommilitonin erhalten hatte. Berlin indes war wie immer eine Reise wert; ich sah die Ausstellung „Roads of Saudia Arabia“ und am Abend im Kino an den Hackeschen Märkten einen großartigen Gary Oldman in Tinker, Tailer, Soldier, Spy. Später saßen mein Begleiter und ich noch auf ein Bier zusammen und spekulierten darüber, wieso die Agententhriller des Kalten Krieges eine britische Domäne sind. Ihre Helden sind desillusioniert auf der Seite des Westens verharrenden Geheimagenten, die schon lange den Glauben an die ideologischen Rechtfertigungen verloren haben. Das Bekenntnis der Überläufer zur „Sache“ des Kommunismus erweist sich als ein letztes Aufbäumen gegen dieselbe Resignation. Auch Oldmans Gegenspieler im Film versucht am Ende seinen Verrat so zu erklären: „It´s become so ugly...“.
Es waren „unsere Jahre“ gewesen, von diesem vermeintlichen Systemgegensatz geprägt, einem angeblichen Ende der Geschichte, die in einer sinnlosen Spirale ewig gleicher antagonistischer Auseinandersetzungen gemündet war, nur noch zu beschließen durch die atomare Apokalypse: NO FUTURE. Hatten wir das wirklich geglaubt? Wir zelebrierten eine melancholische Kontingenz und feierten betrunken Edgar-Wallace-Parties. Aber nur wenige von uns brachen ihre Studien ab und fuhren Blutkonserven aus. Wir spekulierten in Wahrheit munter weiter auf eine Zukunft, an die wir nicht zu glauben vorgaben.
Am Sonntag nahm ich mir aufrichtig vor, meine Hemmungen zu überwinden und den Sohn des rough guys anzurufen. Von Emmi hatte ich seit Monaten kein Lebenszeichen erhalten. Doch sie war im Winter an der Seite von Ansgars Sohn in Berlin gesehen worden. Die junge Studentin, von der ich die Mobile-Nr. bekam, hatte sogar den Eindruck gewonnen, sie lebe mit Lars zusammen. Emmis Hamburger Wohnung stand seit dem vergangenen Sommer leer. Ihre Mutter lüftete sie manchmal durch. Der Polizei, bei der sie eine Vermisstenmeldung hatte machen wollen, galt Emmis Abwesenheit als ein freiwilliges Untertauchen, das gute Recht jeder freien Bürgerin. Ich sah es ähnlich. Emmi war niemandem zum Opfer gefallen. Ansgar, den ich so lange verdächtigt hatte, ihr zu schaden, war seit dem Sommer 1984 verschwunden. Ich war inzwischen überzeugt, dass Ansgar nicht mehr lebte. Entscheidender war, dass Emmi das wusste, längst wusste, es gewusst hatte, als sie mir den ersten seiner Briefe schickte; es gewusst hatte, als sie mir vormachte, er sei wieder in ihrem Leben aufgetaucht, sie habe sich erneut in ihn verliebt. Am Sonntagmorgen beim Frühstück im Hotel versuchte ich mir klar darüber zu werden, worum es mir jetzt noch ging.
Ich war verletzt; ich war neugierig; ich war verängstigt und schockiert. Ein Mix aus widersprüchlichen Gefühlen, bei denen es mir nicht gelang, Ursachen und Wirkungen auseinander zu halten. Meine Gefühle, so hatte ich im Laufe der Geschichte begriffen, waren meist richtig gewesen, nur hatte ich nicht erkannt, worauf sie sich bezogen. Ich holte mir noch eine Schale frisches Obst von der Bar und eine weitere Tasse Kaffee. Als ich Emmi im Oktober 2010 in Berlin getroffen hatte, war sie fest entschlossen, die Stadt zu verlassen. Die Ehe mit Björn war gescheitert; sie hatte durch den Verkauf ihrer Anteile an der Anwaltspartnerschaft, der sie angehörte, so viel Geld gemacht, dass sie für die nächsten Jahre frei entscheiden konnte, was und wieviel sie arbeiten wollte. Sie zog nach Hamburg weil sie dort, wie sie behauptete, noch Freunde habe. Emmi wirkte damals im Herbst befreit und unternehmungslustig. Ich dachte, die Trennung habe ihr gut getan. Was war es wirklich, das sie so fröhlich machte? Sie gab mir die Briefe. Punk Pygmalion. Sie war es, die den Titel fand. Sie wollte, dass ich die Briefe veröffentlichte. Und sie behauptete schon damals, sie werde wenig später Ansgar wiedersehen. Plante sie stattdessen, Lars zu treffen? Oder war er ihr schon begegnet? Lars studierte seit Februar 2010 in Berlin, hatte ich von Maja erfahren. Emmi, wurde mir klar, hatte einen Plan im Oktober 2010, der sie erregte und beschwingte. Das steigerte sich noch während der Wochen und Monate, in denen ich die ersten Briefe von Ansgar im Blog veröffentlichte und sie behauptete, ihn regelmäßig in Hamburg zu sehen. Sie machte mir weis, die leidenschaftliche Affäre habe erneut begonnen und ich reagierte mit Abwehr. Weil ich fühlte, dass sie log? Oder weil sie sich tatsächlich auf eine Amour fou eingelassen hatte, eine Pygmalion-Geschichte, nur umgekehrt, in der sie sich den Toten wieder erschuf in seinem Sohn? War es so? Im Februar 2011 traf ich sie im Märchenwald bei Kassel. Da schien sie auf dem Höhepunkt flirriger Verliebtheit zu schweben. War sie mit Lars zusammen?
Meine veröffentlichter Verdacht, Ansgar habe sie im Sommer 83 in Berlin vergewaltigt, muss eine Störung des Planes gewesen sein. Welchen Planes aber? „Schreib mir ein Happy End.“ Sie wies die Unterstellung empört zurück. Schrieb mir sogar als er, als Ansgar. Es war doch sie, die das schrieb? Wusste Lars, was gespielt wurde? Ich wollte ihn anrufen am Sonntagmorgen in Berlin, aber ich hatte Angst vor dem, was er mir womöglich erzählen würde. Wie sollte ich anfangen? Wusste er, dass es mich gab? Las er das Blog? Er wusste, wer sein Vater war. Aber war ihm klar, dass Emmi Ansgars Geliebte gewesen war? Wie sollte ich überhaupt anfangen? Ich nippte an meinem Kaffee. Eine Internetrecherche, dachte ich, könnte nicht schaden. Mein Macbook hatte ich mit runter in die Frühstückshalle genommen. Aber bequemer saß es sich in den Sesseln in der Lobby, wo ein kostenloser Zugang zu einer schnellen W-Lan-Verbindung angeboten wurde. Viele Einträge über Lars gab es nicht. Er hatte einen Facebook- und einen LinkedIn-Account. Bei einer Berliner Galerie war er als Künstler gelistet. Als ich die Homepage der Galerie öffnete, zuckte ich zusammen: Eine der riesigen Skulpturen von Ansgar, deren Abbildungen ich auf der gefakten Seite im Netz gefunden hatte, stand da inmitten eines weißgetünchten Galerieraums. Fatherhood – Warum hast du mich verlassen? Skulpturen von Lars P. 10.02. – 3.03. 2012. Die Ausstellung lief noch. Im Impressum fand ich die Adresse der Galerie, nur eine Viertelstunde zu Fuß von meinem Hotel entfernt. Ich erteilte mir selbst einen Dispens. Was sprach dagegen, erst einmal die Skulpturen des jungen Mannes anzuschauen? Vielleicht würden mir die Eindrücke zu seinen Arbeiten helfen, einen unverfänglichen Einstieg in das Gespräch zu finden. Ich schaute auf meine Uhr. Die Galerie öffnete sonntags um 11.00.
Es war eindrucksvoll. Wie schon auf den Abbildungen im Netz gefielen mir die groben Klötze, die Lars nach Ansgars Skizzen aus dem Stein geschlagen hatte, nicht. Aber ich erkannte, dass sie gut waren. Der Kontrast zwischen dem toten, harten, kalten Material und der immer wieder sich durchdrückenden, schlängelnden, auswuchernden organischen Masse, die der rohe Meißel aus dem Stein geschlagen hatte, wirkte wuchtig und wild. Es war als wolle etwas sich mit Gewalt zum Leben bringen, in einer gigantischen, doch zum Scheitern verurteilten Anstrengung. Diesen Steinklötzen stellte Lars filigrane Figuren aus Papier, Draht und Wachs entgegen, leicht, biegsam, formbar. Sie berührten die steinernen Monumente zärtlich an besonders gewaltigen Wölbungen, als strichen sie sanft über die aufgerissenen Wunden. Es war als näherten sich die schmalen, stilisierten, an menschliche und tierische Gestalten erinnernden Figuren den angeschlagenen Felsbrocken, um sie zu trösten und zu heilen. Statt des Vorwurfs, den der Titel der Ausstellung zu erheben schien, brachte die Konfrontation der väterlichen Ideen mit denen des Sohnes keine Anklage hervor, sondern eine zarte Versöhnung. Die dürren, staksigen Hirten des Sohnes weideten gleichsam die verlorenen schweren Schafe des Vaters und gaben ihnen, wessen sie bedurften. Mir schnürte, was ich sah, die Kehle zu, denn es sprach aus diesen Begegnungen, die der Sohn sich mit dem unerreichbaren Vater geschaffen hatte, eine ungestillte Sehnsucht nach Nähe. Er hatte das eigene Begehren in die Steinblöcke des Vaters projiziert und sich diesen mit einer zugleich schwachen und starken Geste unterworfen. Er hatte ihn nicht übertrumpft, sondern durch Zärtlichkeit besiegt.
Ich weiß nicht, ob ich die Ausstellung mit anderen Augen gesehen hätte, wenn ich nichts über Lars persönlichen Hintergrund gewusst hätte. Auf dem ausliegenden A4-Blatt wurde erwähnt, dass der Künstler die Steinskulpturen nach Skizzen seines Vaters gefertigt habe. Jedoch wurde der Name des Vaters nicht genannt. Der Dialog, den Lars mit seinem Vater suchte, war brüchig, angespannt, gefährdet. Finger streckten sich aus nach dem erkalteten Vater-Stein und berührten ihn vorsichtig. Ich bin, der ich bin. Es ist von diesem Vater keine Antwort zu erwarten. Die Kraft, die von ihm ausging, ist auf den Sohn übergegangen, der seine Ideen umsetzt. Hier spielte Emmi keine Rolle. Ansgar hatte sie übersprungen, mit einem kühnen Rückschritt hatte er sich in seinem Sohn aufgehoben - statt ihn ihr. Bevor er im Frühjahr 1984 gen Süden reiste und Emmi besuchte, ließ er sein Skizzenbuch in Hamburg bei Maja, hinterließ er sein Vermächtnis dem ungewollten Sohn. Er sehnte sich nach Emmi (Ich glaube nicht, dass er hierbei log.), aber er traute ihr nicht. Was er weitergeben wollte, gab er an Lars, das Kind, das er gezeugt hatte. Er hatte Emmi schon auf grausame Weise um sich betrogen, bevor er sie zwang, sich ihm ganz hinzugeben. Welches Happy End sollte ich dir noch schreiben, Emmi? Auf dem Blatt waren auch die bisherigen Einzel- und Gruppenausstellungen von Lars gelistet. Im Sommer 2010 hatte er in dieser Galerie an einer Gruppenausstellung zum Thema „Godfather“ teilgenommen. Drei Wochen bevor Emmi Björn verließ, war diese Ausstellung eröffnet worden, zehn Wochen später traf ich sie in Berlin, um ihr beim Umzug zu helfen, brachte sie das Gespräch auf Ansgar, regte sie die Veröffentlichung der Briefe in meinem Blog an. Ich war mir plötzlich sicher, dass hier der Zusammenhang war.
Der Besuch der Ausstellung hatte mir die Entscheidung nicht erleichtert, ob und wie ich das Gespräch mit Lars suchen sollte. Besser, so dachte ich, als ich die Oranienburger Straße hinunter ging, wäre es, erst noch einmal mit Björn zu sprechen. Mein Phone klingelte. Am Apparat war der Schriftsteller Alban Nikolai Herbst, den ich im Sommer mit seinem Sohn in Rom getroffen hatte. Ich mochte den Jungen und freute mich darauf, ihn wiederzusehen. Auch war mir die Verzögerung einer Entscheidung, wie ich weiter vorgehen wollte, lieb. Ich verabredete mich mit Herbst und seinem Sohn an der U-Bahn-Station Eberswalder Straße und wir verbrachten einen schönen Nachmittag, tranken Glühwein beim Flohmarkt am Mauerpark und aßen später mächtige Kuchen in einem Dschungelcafé. Als wir uns trennten, dämmerte es schon. Ich zog mein Phone aus der Tasche. Die Nummer, die die Studentin an der UdK mir gegeben hatte, war abgespeichert. Doch ich scrollte wieder hoch und drückte Björns Nummer.
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