Fortsetzung des Brief- und Blogromans PUNK PYGMALION (Kapitel 1-27 Hier: )
Ich hatte mich müde und leer gefühlt, nachdem ich Anfang März von dem Treffen mit Björn in die kleine Wohnung in der Erich-Weinert-Straße zurückgekehrt war. Um das Telefonat mit Lars hatte ich mich gedrückt, ohne etwas gewonnen zu haben. Björn hatte Emmi überhaupt nicht gekannt. Er war mit seiner Fiktion einer Traumfrau verheiratet gewesen und das hatte ihm genügt. War ich so wütend auf ihn, weil ich mich in ihm wieder erkannte? Noch vor einem Jahr hätte ich Emmi als „meine beste Freundin“ bezeichnet, obwohl ich schon längst nichts mehr über sie wusste. Emmi war mir immer so schutzbedürftig erschienen, mit einer glatten und effektiven Fassade zwar, doch für mich war sie das Mädchen geblieben, das meinen Rat suchte. Sie hatte mich in der Rolle der Stärkeren geschickt bestätigt, während sie in Wahrheit mich manipulierte. „Schreib mir ein Happy End.“ Welches glückliche Ende konnte das sein? Ansgar war im Sommer 1984 verschwunden und nichts deutete darauf hin, dass Emmi ihn suchte. Vielmehr hatte sie sein Wiederauftauchen vorgetäuscht, um mich schließlich zu Lars zu führen, seinem Sohn. Erst zu Hause am See kam ich zwei Wochen später dazu, von jenem Abend mit ihrem Ex-Mann im Blog zu berichten.
Ich hatte mich müde und leer gefühlt, nachdem ich Anfang März von dem Treffen mit Björn in die kleine Wohnung in der Erich-Weinert-Straße zurückgekehrt war. Um das Telefonat mit Lars hatte ich mich gedrückt, ohne etwas gewonnen zu haben. Björn hatte Emmi überhaupt nicht gekannt. Er war mit seiner Fiktion einer Traumfrau verheiratet gewesen und das hatte ihm genügt. War ich so wütend auf ihn, weil ich mich in ihm wieder erkannte? Noch vor einem Jahr hätte ich Emmi als „meine beste Freundin“ bezeichnet, obwohl ich schon längst nichts mehr über sie wusste. Emmi war mir immer so schutzbedürftig erschienen, mit einer glatten und effektiven Fassade zwar, doch für mich war sie das Mädchen geblieben, das meinen Rat suchte. Sie hatte mich in der Rolle der Stärkeren geschickt bestätigt, während sie in Wahrheit mich manipulierte. „Schreib mir ein Happy End.“ Welches glückliche Ende konnte das sein? Ansgar war im Sommer 1984 verschwunden und nichts deutete darauf hin, dass Emmi ihn suchte. Vielmehr hatte sie sein Wiederauftauchen vorgetäuscht, um mich schließlich zu Lars zu führen, seinem Sohn. Erst zu Hause am See kam ich zwei Wochen später dazu, von jenem Abend mit ihrem Ex-Mann im Blog zu berichten.
Obwohl
Björn mir nicht weiterhelfen konnte, hatte ich an dem Abend begonnen, mich
daran zu erinnern, wie Emmi auf mich gewirkt hatte, früher als wir Kinder waren
und dann später, als sie mir so viel vormachte. Ein Satz ging mir nicht aus dem
Kopf, den ich schon einmal gedacht hatte: Emmi
will Zeugen. Diesen Verdacht hatte ich zuerst gehabt, als ich glaubte aus
den Briefen Ansgars die Geschichte einer Vergewaltigung herauszulesen, die Opfer und Täter auf
unheimliche Weise verband. Emmi hatte das empört zurückgewiesen, Ansgar auch.
Aber es war gar nicht Ansgar gewesen, der mir die Mail geschickt hatte, sondern
Emmi als Ansgar. Emmi will Zeugen.
Damit fing doch alles an: Sie wollte, dass ich die Briefe veröffentlichte. Die Briefe sind das Einzige, was von
Ansgar übrig ist. Und sein Sohn. Dem Emmi die Gestalt des Vaters
gegeben hat: PUNK PYGMALION. Sie will ihn wieder lebendig machen?
Aber
auch vorher schon: Der Fick hinter der Disco. Wie Emmi mich angesehen hatte.
Sie wollte Zeugen, damals schon, im Frühsommer 1983. Geht
es darum, um den zwanghaften Exhibitionismus eines verkapselten Mädchens, das
sich anders nicht öffnen kann? Sie hat sich auch von Lars auf offener Straße
befingern lassen. Aber da ist noch etwas anderes. Am Grunde dieser Geschichte
liegt nicht das Begehren, sondern die Leiche. „Wir haben eine Leiche im
Landwehrkanal gefunden. So habe ich ihn kennengelernt.“ Das war das Erste
gewesen, was Emmi mir erzählt hatte. Davon war aber später nicht mehr die Rede.
Erst recht nicht, als sie mir im
Oktober 2010 die Briefe übergab. Die Leiche im Müllsack war das gewesen, was ich von der Geschichte mit dem
„rough guy“ in Erinnerung behalten hatte, aber sie ging darüber hinweg.
Es
wird mir nichts anderes übrig bleiben, als den Spuren zu folgen, die sie gelegt
hat, wenn ich ihr auf die Schliche kommen will. „Schreib mir ein Happy End.“ Das hatte sie mehrmals gefordert, aber darum
geht es jetzt nicht mehr, offenbar.
Denn Emmi schweigt und drängt nicht länger. Ich werde sie nicht finden, wenn
ich Lars aufsuche, das spüre ich. Sie ist woanders, unerreichbar für mich. Doch
sie wollte, dass ich von ihm weiß. Ich sollte von allem wissen, was Ansgar
hinterlassen hat. Und nicht nur ich. Sie wollte ihn sehen lassen – und sich?
Aber etwas ist schief gegangen bei ihrem Plan, ganz wie bei jenem irren
Rettungsversuch, den Ansgar im Spätsommer 1984 in Barcelona unternahm:
EMMI,
endlich
kam ein Brief von dir nach diesen Wochen des Schweigens. Du kommst also,
schreibst Du. Du wirst verschwitzt und schmuddelig nach der langen Fahrt aus dem
Zug steigen und ich werde dich hochheben und beinahe zerdrücken, aber nur
beinahe, denn ich brauche dich, brauche dich noch mehr als vorher. Mein allerletzter
Versuch, es ohne dich zu schaffen, ist gescheitert. Ich wollte ein Zeichen und
ich bekam es.
Du
kennst sie nicht, die Sagrada Familia,
denke ich, du weißt das nicht, wie sie in der Hitze flimmert, der unvollendete
Bau, wie er in den Himmel ragt, gegen diese Ödnis und Armut hinter den tristen
Fassaden ringsum. Wenn du sie siehst, wirst du mich verstehen. Gaudi wurde von
einer Straßenbahn überfahren, bevor sie fertig wurde, und das war auch gut so,
denn sie wird niemals fertig werden. Darum geht es nämlich. Ich habe mich durch
die Touristenmassen gekämpft, das hatte ich dir schon geschrieben, oder? Es ist
voll in der Sagrada, immerzu, sie schlampen sich da rein in ihren Shorts, die
die hässlichen, dürren Beine dieser Schreibtischhocker freilegen und vor ihre
dicken Bäuche haben sie die Leicas geschnallt und ihre Muttis kreischen: „Oh“
oder wischen den ekligen Bälgern die Eiscreme durchs Gesicht. Ich hocke mich an
den Rand und sehe das alles und ich fühle, dass es Gerechtigkeit geben muss,
der Herr sei mit euch, und ich muss lachen, lachen, lachen, so laut, dass die
Papis sich zu mir rumdrehen, ihr Völkchen an sich heranziehen und mich böse
anstarren. Aber ich lache ihnen ins Gesicht, den Drecksäcken, denn ich stelle
mir vor, wie der Herr, mein Gott, die Spitzen der Türme nach ihnen schleudert,
bis ihre Leiber zertrümmert am Boden liegen mitsamt ihrem Pack. Doch die Zeiten
des Blitzeschleuderns sind vorüber. Er verlässt sich darauf, dass hier unten
einer anfängt.
Das
Lachen, Emmi, sicher ahntest du es schon, blieb mir dann im Hals stecken. Ich
wusste, dass ich dran war. Ich wusste das schon die ganze Zeit, seit wir damals
in Berlin in den Müllsack sahen, war mir das klar und dir auch, das weiß ich,
auch wenn du nie ein Wort gesagt oder geschrieben hast. Du brauchst mir auch
nicht altklug daher kommen und
mich daran erinnern, dass ich natürlich Drogen genommen hatte, was stimmt.
Sogar die Spießer müssen nämlich zugeben, wenn sie als Mediziner unterwegs
sind, dass diese Drogen mein Bewusstsein
nicht vernebeln, sondern den Schleier wegreißen, so dass alles vollkommen
klar und korrekt wird. Ich kenne meinen Auftrag, glaube mir. Anders als
die meisten, die ihren nicht annehmen und sich einfach feige zurückziehen (und
natürlich könnte ich das auch oder ich hätte es gekonnt, wenn das in Berlin
nicht passiert wäre), muss ich meinen ausführen. Denn ich habe dich getroffen und
deshalb kann ich nie mehr so tun, als wüsste ich nicht. Ich habe meinen Tod gesehen und nun muss ich
es auch wahr machen. Dennoch wollte ich denen noch
eine Chance geben, als ich da an der Wand lehnte in der Sagrada Familia und mir
plötzlich so kalt und schlecht war, dass ich mich beinahe übergeben hätte.
Ich
fuhr zurück zu meiner Hütte, ich weiß nicht mehr, wie ich das geschafft habe,
aber ich habe es geschafft, obwohl die Häuser über mir zusammenschlugen und
sich auf mich werfen wollten, konnte ich drunter durchschlüpfen, ich war
schnell und wendig wie ein Galgo, auch wenn ich niemals so elegant aussehen
werde, sondern der plumpe Tor bleibe, den du kennst. Ich schaffte es über die
Landstraßen und durch die zerklüfteten Felsen her zu meinem Häuschen und dort
setzte ich mich klebrig und stinkend wie ich war an den wackelnden Tisch und
schrieb und schrieb, Seite um Seite schrieb ich das auf, was die Rettung sein
könnte, der eine, der einzige notwendige Beweis, dass sie nicht vollständig
verdorben und verloren sind, dass es ein Leben unter ihnen geben kann, das kein
Verhängnis ist und kein Verrat. Du ahnst das sicher schon, was ich schrieb, du
weißt, wie ich an die Magie der Zeichen
glaube, dass sie uns retten können, wenn sich nur jemand findet, der ohne zu
fragen, das Zeichen setzt, wie du es getan hast, als ich dich bat.
Es
ist so offensichtlich, wenn du nur einmal den Kopf hebst, dort unten, wenn
einer nur einmal den Kopf gegen die Sonne hebt, vor der sich dunkel die Türme
abzeichnen, dann weißt du, dass dieses Sühnewerk nicht wirken kann, solange es
keinen Raum hat. Wenn also, so schrieb ich, sie sich entschließen könnten, alle
gemeinsam entschließen könnten, der Sagrada Familia diesen Raum zu verschaffen,
indem sie ringsum alles, alles, wirklich alles abreißen, wenn sie ihr Obdach
aufgeben und einander woanders Obdach gewähren, wenn sie einmal freiwillig
täten und weil sie es wollten, was richtig ist, ohne dass sie mit der Peitsche
gezwungen werden, von denen, die selbst auch immer nur zum ihrem Vorteil
handeln, wenn das möglich wäre, dass sie in einem großen Entschluss das Feld überlassen der wahren Sühne aller, die gesündigt haben und also ALLER und ließen es einfach stehen als ein Heiligtum, das keiner betreten dürfte, nicht
einmal ein Priester - und mit der Zeit verschwänden alle Erinnerungen daran,
wie es im Inneren der Kathedrale aussieht. Es wäre eine Zuflucht für all die
quälenden und gequälten Phantasien und endlich eine Anbetung des Heiligen, die
sich nicht selbst feiert. Sie nähmen sich zurück, verstehst du, an einer
einzigen Stelle, nähmen sich alle zurück und ließen etwas stehen und von
alleine verfallen.
Das
alles schrieb ich auf und ich weiß schon, was du sagen willst, dass ich
wahnsinnig bin, wenn ich glaube, dass sich irgendeiner dafür interessiert, was
ich hier vorschlage oder dass es unzumutbar ist, die Menschen aus ihren
Wohnungen zu vertreiben oder dass ich Gott gelästert habe und den Katholizismus
verachte und wieso ich mir einbilde, mich hier einmischen zu dürfen. Aber
verstehst du nicht – es geht gerade darum, dass es kein Handel ist. Gerade weil
ich nichts zu bieten habe und fest entschlossen bin, nichts zu geben, gerade
deshalb bin ich der Einzige, der diesen Vorschlag machen kann. Es gibt nichts
für sie dabei zu gewinnen, außer meinem Leben, das ihnen nicht bedeutet.
Emmi,
ich fühlte mich so frei, nachdem der Brief fertig war und ich einen Umschlag
gefunden hatte, in den ich ihn stecken konnte. Erst da dachte ich dran, dass
ich durstig war und hungrig und ich holte mir ein Glas Wasser und ein Stück
Brot und setzte mich wieder. Das war mein Festmahl, nachdem ich endlich wusste,
was zu tun ist. Aber dann starrte ich auf den Umschlag und ich begriff, dass
ich keine Ahnung hatte, an wen ich ihn adressieren sollte. Den Brief hatte ich
auf Englisch geschrieben, denn mein Spanisch taugt ja gerade, um ein wenig
einzukaufen, doch wer würde ihn lesen? Und nach dem Höhenflug stürzte ich ab,
als mir das klar wurde, wie klein die Chance war, wie winzig, dass irgendjemand
ihn finden und lesen würde, meinen Brief, wo doch hier kaum jemand Englisch
kann und selbst wenn irgendjemand ihn aufheben und anfangen würde das zu lesen,
wäre es sehr wahrscheinlich, dass er schnell aufgeben und das Ganze in den Müll
stopfen würde.
Ich
sah das ein, ich sah es ganz klar – du musst trotz allem nicht denken, dass ich
verrückt bin. Ich weiß, was ich zu erwarten habe, meine Pläne sind gemacht, ich
habe meine Angelegenheiten geordnet, wie man so sagt, alle außer dir, denn dich
brauche ich, weil du die Zeugin bist und bleiben sollst und weil ich dich bei
mir haben will, wenn es soweit ist. Das war die letzte Chance, dich zu schonen,
und ich wollte sie trotz allem nicht vorüber gehen lassen. Deshalb fuhr ich am
nächsten Tag wieder hinunter in die Stadt zur Sagrada Familia. Ich wollte den
Brief mitten in der Kathedrale ablegen unter all den Menschen, den Touristen,
die ihn lesen konnten. Ich hatte darauf geschrieben: ANYBODY und das war ja
wohl deutlich genug.
Dann
erhielt ich mein Zeichen. Du musst wissen, Emmi, dass die Sagrada an jedem Tag
geöffnet ist, aber als ich ankam, war der Eingang, waren alle Eingänge mit
Absperrgittern verstellt und als ich fragte, kam die Antwort: Es werden Fotos
gemacht in der Sagrada und deshalb ist sie für zwei Stunden gesperrt. Einen
Moment hatte ich Hoffnung, das könnte ein Vorbote jener Befreiung des Ortes
sein, den ich verlangte, aber dann hörte ich, was für Fotos da gemacht wurden.
Sie machten Fotos für den Katalog, den verdammten Otto-Katalog, Emmi, sie
sperrten die Sagrada Familia, um ein paar Sommerkleidchen und Anzüge für den
nächsten Frühjahrskatalog abzulichten. Das war es also. Das war ein eindeutiges
Zeichen. Es schmetterte mich nieder, doch ich fühlte auch Dankbarkeit, denn
wenigstens gab es hierbei keinen Zweifel mehr.
This world brings me down
Gag with every breath
This world brings me down
I´m looking forward to death.
Du
wirst also kommen, Emmi, du wirst kommen und ich werde dich abholen. Es wird
alles ganz leicht sein, das verspreche ich dir. Wir werden es richtig machen
diesmal, wir werden alle Grenzen überschreiten und uns nie mehr trennten. EMMI.
DEIN
ANSGAR
Wie
bei anderen Briefen auch, fehlt für diesen der Umschlag. Vielleicht hat er ihn
gar nicht mehr an Emmi geschickt, sondern sie fand ihn später dort in Barcelona
und nahm ihn mit zurück. Der Brief, den er an ANYBODY schrieb, ist nicht in dem
Kasten, den Emmi mir übergab. Es gibt überhaupt nur noch einen Brief, der
unveröffentlicht ist, den allerletzten, der aber nicht erklärt, was dann
geschah, warum Emmi alleine aus dem Süden zurückkehrte und von Ansgar niemand je
wieder gehört hat.
Das
Wort „Zeugin“ in diesem Brief, ich hoffe, Sie glauben mir das, ich hatte es nicht gelesen,
bevor ich den Verdacht äußerte, Emmi wolle Zeugen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen