Ein Beitrag von Morel
Paris ist vielleicht eine Messe wert,
aber nur ein kleiner Teil von Frankreich. Und sollte Paris das vergessen, dann
wird es alle fünf
Jahre einmal daran erinnert, wenn ein Präsident gewählt werden soll. Denn die Entscheidung fällt nicht in
Paris, im Millionärs-Ghetto
Neuilly oder den Vororten (mit den niedrigen Wahlbeteiligungen), sondern
zwischen den Wiesen, Feldern und Wäldern des wahren Frankreichs, das eben eine Agrarnation ist
und bleiben möchte.
Dann bricht der politische Tross, die Beamten und Sicherheitsleute, die
PR-Berater und Journalisten, die Kameraleute und Claqueure, und natürlich auch
der Präsident
selbst, auf. Denn nur auf der Landpartie erweist sich die reale Präsenz des
französischen
Politikers als Gott in Frankreich. Bevor der für den Economist
"ziemlich" (rather) gefährliche Monsieur Hollande die Anleihenmärkte in
Turbulenzen stürzen
wird, begeben wir uns mit drei französischen Politikern auf Landpartie.
Monsieur
Lheureux
Der erste ist nur Regierungsrat, aber
er wird vom Bürgermeister
voller Ehrfurcht wie ein absoluter Monarch begrüßt. Und dann
folgt - in Gustave Flauberts Madame Bovary - eine der komischsten Reden der Weltliteratur (während sie
den Phrasen über
das mit "sicherer und kluger Hand" geführte Staatsschiff nur beiläufig zuhört ist Emma
Bovary einem ganz anderen Phrasendrescher ausgesetzt). Aber lauschen wir eine
Weile Monsieur Lheureux, der wie alle französischen Politiker das Landleben
mehr als die Arbeit im Büro liebt: "Hat
nicht jeder von uns schon manchmal über die Bedeutung jenes bescheidenen Tierchens nachgedacht,
das die Zierde unserer Bauernhöfe ist und
uns gleichzeitig ein weiches Kopfkissen, einen saftigen Braten für unseren
Tisch und die Eier schenkt?" Ein Geschenk, das zu versagen, schon
der Majestätsbeleidigung
gleichkäme.
"Ich käme nicht zu
Ende, wenn ich alle die verschiedenen Erzeugnisse lückenlos aufzählen müßte, mit
denen die wohlbebaute Erde wie eine großmütige Mutter ihre Kinder überschüttet. Ich nenne nur den Weinstock, den Baum, der uns den
Apfelwein spendet, und den Raps. Dann haben wir den Käse und den
Flachs. Meine Herren, vergessen wir den Flachs nicht!" Ja,
vergessen wir den Flachs nicht. Böser und komischer als Flaubert waren wenige französische
Schriftsteller. Aber auch diese Rede ist dann einmal vorbei. "Der feierliche Akt war zu Ende. Die
Menge verlief sich...Die Herren schnauzten ihre Knechte an, und die Knechte prügelten das
Vieh, das mit grünen Kränzen um die Hörner in seine Ställe zurücktrottete. Ahnungslose Triumphatoren."
Monsieur
Augustin
Nach den Triumphen ziehen sich die Präsidenten
wieder dahin zurück,
wo sie herkommen. Denn kein französischer Politiker darf in Paris geboren sein, sein
Stammbaum muss in einer bestimmten Region wurzeln, in der er häufig dann
auch seinen Wahlkreis hat (Hollande im Übrigen in der selben Region, in der auch Chiracs Wahlkreis
lag). Dort kann er oder sie dann am Wochenende über den Markt schlendern, Käse
probieren, ein Brot kaufen und mit den Bauern plaudern. Das ist wahrscheinlich
das entscheidende Problem Sarkozys: er hasst das Landleben, er liebt die mondänen Parties
oder was er dafür
hält. Aber es
kommt eh nicht auf vermeintlich wahre Gefühle an, auch nicht bei diesem literarischen Präsidenten,
von Georges Simenon nach dem Vorbild de Gaulles geschaffen, der von seinem Landhaus
aus immer noch die Strippen zieht: "Er
war nicht bibliophil und hatte nie ein Buch seines Einbands oder seiner
Seltenheit wegen gekauft. Er hatte sich vor jeder Leidenschaft, jeder Sucht,
jedem 'hobby', wie die Engländer sagen, in acht genommen, zeigte kein Interesse am
Angeln oder an der Jagd oder an irgendeinem anderen Sport, auch nicht am Meer
oder am Gebirge, am Roman oder an der Malerei oder am Theater, und all dies
nur...um seine ganze verfügbare Kraft seiner staatsmännischen Aufgabe zu widmen." Der ideale
Politiker, er liebt nichts und niemanden. So wird er schon zu Lebzeiten zu der
Statue, als die ihn Simenon auf der ersten Seite des Romans Der Präsident vorstellt: "Seine
Haut wurde von Jahr zu Jahr feiner und glatter. Wegen weißer Flecken sah
sie aus wie Marmor."
Monsieur
Sarkozy
Einige Jahrzehnte später hat die
erfolgreiche Dramatikerin Yasmina Reza einen gar nicht marmorhaften Präsidentschaftskandidaten
auf seinen Landpartien begleitet. Ihr Buch Frühmorgens abends oder nachts ist eine gelungene literarische Reportage, die sich
vielleicht gerade jetzt zu lesen
lohnt, nachdem ihr Protagonist vor dem Scheitern steht. Der Ton in Rezas
Aufzeichnungen ist anders als bei Flaubert oder Simenon, wie schon dieser
Mitschnitt aus der Bretagne zeigt: "Der
1. Mai. Was soll denn der Scheiß, in einer düsteren Leitstelle ein Radarbild anzuglotzen? Habt ihr euch
mit der Wettervorhersage beschäftigt? Wer hat denn diese hirnamputierte Idee gehabt?...Die
Bretonen sind mir schnurz. Ich soll da zwischen zehn Idioten rumstehen und auf
eine Karte glotzen! Eine halbe Stunde, um zur Leitstelle zu kommen, und eine
weitere halbe Stunde bis zum Alzheimer-Zentrum! An den letzten Wahlkampftagen
in einem Saal eine Karte anglotzen!...Eine immense Wandkarte vom Departement
Finistère. Die Worte Helikopter, Briten, Ehrenamt, Guernsey
umschwirren sein gravitätisches Gesicht. Hinter den Scheiben die Iroise-See, der
Regen, der tiefhängende Himmel."
Ach, Frankreich, wir werden dich
vermissen.
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