Ein Beitrag von Morel
Leere Mitte. Öffentlich-Erwachsen-Werden, growing up in public – es
sind vor allem die introvertierten Kinder, die paradoxerweise damit ihren
Lebensunterhalt verdienen werden. Denn nirgends ist man sicherer vor den
Zumutungen des Sozialen als in der Öffentlichkeit, auf der Bühne und im
Rampenlicht. Ein schüchternes, lesesüchtiges Kind war sie in ihren eigenen, zurückblickenden
Augen: Joan Didion, Romanautorin, Essayistin, Journalistin, Drehbuchautorin,
aber vor allem eine Erinnerungskünstlerin. Denn das Zurückblicken erhob sie zur
Kunst. Selbst als sie die gerade entstehende Hippiebewegung in San Francisco
journalistisch erforschte, verzeichnete sie all das, was im Moment des
Schreibens, der nun auch schon Jahrzehnte zurückliegt, verloren ging. Später
einmal bemerkte sie über diese Zeit: „Ich ging nach San Francisco, weil ich
schon seit einigen Monaten nichts arbeiten konnte, überzeugt davon, Schreiben
sei irrelevant und die mir zugängliche Welt längst untergegangen. Wenn ich noch
einmal irgendetwas arbeiten wollte, musste ich lernen mit der Unordnung zu
Rande zu kommen.“ Während eine ganze Generation freie Liebe und die Revolte
gegen die Autorität feierte, lernte Joan Didion zaghaft, mit der Unordnung zu
leben. Sie zitiert in ihrer ersten Sammlung von Essays, Slouching towards Bethlehem, aus dem gleichnamigen Gedicht von W.B.
Yeats Zeilen, die ihrer Verwirrung Ausdruck verliehen: „Things fall apart; the
centre cannot hold“. Wer sich im deutschen Geisteswesen auskennt, denkt jetzt
unweigerlich an Hans Sedlmeyer und den Verlust der Mitte, eine 1948 erschienene
kuturkonservative KampfSchrift, in der die moderne Kunst als Ausdruck des gestörten
Verhältnisses zu Gott verstanden wird. Die beste Essayistin einer vermeintlich
revolutionären Zeit fürchtet sich vor dem Chaos der Veränderung: eine
ehrgeizige junge Frau, dank eines Stipendiums bei Vogue gelandet, registrierte
Wählerin der Republikaner, Fan des Rechtsaußen Barry Goldwater. Wie angeblich
auch Bob Dylan, der mit der Enthüllung seiner Verehrung für den spleenigen
Republikaner und Ufo-Gläubigen, der Bürgerrechte für Minderheiten als unerträgliche
Einschränkung der Freiheitsrechte empfand, allerdings noch bis zur Veröffentlichung
seiner an mehr als einer Stelle etwas zweifelhaften Memoiren wartete. Während
Joan Didion die gesamten 80er und 90er Jahre Romane und Essays gegen die
Politik Reagans und Bushs schrieb. Irgendetwas passt hier nicht zusammen.
Things fall apart. Aber das gehört zum Öffentlich-Erwachsen-Werden dazu: das
Leben lebt sich nur noch bruchstückhaft. Wer die Bühne des Lebens betritt, schüchtern
und unsicher, wird die Rollen spielen, die ihm angeboten werden. Die Mitte ist
eben immer leer und muss provisorisch gefüllt werden.
*
Zeitung und Roman. Fangen wir noch einmal an. In Deutschland sind Zeitung
und Roman lange feindliche Geschwister gewesen, die Zeitung eine flatterhafte,
oberflächliche Dame von Welt, der Roman ein schwermütiger, gedankenvoller Grübler.
Die Romane wünschten wir uns geistreich und tief, dafür verachteten wir das
oberflächliche Geplauder und die billige Propaganda der Presse. Der New
Journalism hat diese Dichotomie in den 60er Jahren in den USA und in den 80er
Jahren in Deutschland unter dem Sigel der Popliteratur (in Spex, Tempo und
anderen Zetschriften) aufzuweichen versucht. Als sie bei Vogue arbeitete,
schrieb Joan Didion ihren ersten Roman, Run,
River, ein fürchterlich nostalgisches Buch, wie sie später in Where I was from urteilte. Der Roman
diente ihr dazu, die ganze Geschichte Amerikas und das Ende der Ideale der
Pioniere in einem Ehepaar zu spiegeln. Der Roman als Geschichtsspeicher, der
das Zerfallene wenigsten imaginär zusammenhält. Aber es sind ihre
journalistischen und autobiographischen Arbeiten, für die sie ihre Leserinnen
(und die wenigen Leser) lieben. Diese Arbeiten entstanden nicht, weil sie etwas
zu sagen hatte oder die Welt verändern wollte. Sie entstanden, weil Didion die
Welt nicht verstand. Weil sie sprach- und ratlos war. Die zu einfache
Verfallsgeschichte des Romans war eben nur die halbe Wahrheit. Die Verwirrung
ist der Ausgangspunkt ihrer Essays, nicht das Einverstanden- oder Dagegensein.
Für ein solches Denken, dass sich unfruchtbaren Gegensätzen entzieht, sind die
schnell vergessenen Zeitungen und Magazine ideale Orte etwas Bleibendes zu
publizieren. Denn der Zwang die Gegenwart zu verstehen wirkt als gesunder
Stress auf das Betriebssystem Journalismus. Wer nicht weiß, worum es geht, fängt
an die Welt in ihren Einzelheiten wahrzunehmen. Schlecht wird es nur, wenn
diese Einzelheiten in vorgefertigte Schablonen gesteckt werden sollen. We tell us stories in order to live, der
Titel einer Essay-Sammlung von Joan Didion muss genau gelesen werden, um nicht
als Apologie der üblichen Manipulationen verstanden zu werden. Es geht nicht
darum Geschichten zu erfinden, sondern das Leben in Geschichten zu verwandeln,
die wir uns gegenseitig erzählen können. Dabei ist nicht die große Erzählung
gefragt, der Bildungsroman mit Anfang und Ende, sondern viele kleine
Geschichten. Diese Geschichten aber, so Didion, sind lebensnotwendig. Weil wir
sonst nicht arbeiten können, nicht aufstehen möchten und uns, wie in einem
Alptraum, die Worte fehlen, wenn wir plötzlich auf der Bühne stehen im Kostüm
unserer Wahl. Wir kommen nicht daran vorbei, uns Geschichten zu erzählen (es
gibt da auch kein einsames Autoren-Ich, nur eines, dem manchmal die Worte
fehlen, das immer wieder ansetzt zu erzählen). Das sind Didions Essays: vorläufige
Geschichten über etwas, was nie zu Ende geht und das wir deshalb letztendlich
auch nicht verstehen können. Die Zeitung, nicht der Roman unseres Lebens.
*
A real book reads us. Lionel
Trilling
Ich und Figur. In den letzten Jahren ihrer Zeit in New York hätte Joan
Didion dem heimlichen Goldwater-Anhänger Robert Zimmermann (der sich natürlich öffentlich
und voller Sarkasmus in seinen Protestsongs über die Kommunistenangst des
Republikaners mokierte) an jeder Straßenecke begegnen können. Sie schreibt über
diese Zeit in New York, in einem ihrer schönsten Essays, Goodbye to all that, der seinen Titel der Autobiographie Robert
Graves erborgt. Dylans Halloween-Konzert 1964 in der New Yorker Philharmonic
Hall erwähnt sie nicht. Berühmt wurde es durch die scherzhafte Bemerkung des
Folksängers, zu Halloween trage er seine Bob-Dylan-Maske. Solche Witze können
einen verfolgen. Wer damit anfängt Masken zu tragen, wird sie so schnell nicht
wieder los. Das in seiner kalkulierten Coolness emphatische Prosastück, mit dem
Joan Didion ihre Essaysammlung beschließt, geht diesem Spiel zwischen Gesicht
und Maske, Ich und Figur in den Verzweigungen ihrer Sätze nach. Schon in den
ersten Zeilen dieses Essays stellt sie sich als Romanheldin vor, eines Romans
allerdings, dessen Anfang ihr klar und deutlich vor Augen stehe, während das
Ende – ihr Entschluss New York zu verlassen – nur noch undeutlich erinnert
wird. Ihr Stil vermeidet die eindeutige Aussage, es werden selten Fakten
konstatiert, sondern in Nebensätzen und Aneinanderreihungen alternative Welten
aufgefächert. Regnete es tatsächlich an jenen Abend als ich meine Handtasche im Drugstore liegen ließ? Aus
diesem Fächer unsicherer Wirklichkeiten entfaltet sich die Bewegung dieses
Essays, der mit dem optimistischen Einzug der Heldin auf eine erste Bühne
beginnt und dem Zusammenbruch der Heldin nach Happy-End und überstürzter Flucht
nach Kalifornien endet. Diesen Zusammenbruch, die Depression, schildert sie wie
von außen. Während zuvor die Lichter, Gerüche und Momente der Großstadt als
Teil des Ichs gefeiert werden. Was hier Ich ist, was Figur, wird keiner noch so
gründlichen Lektüre sich je erschließen. Es ist einfach der Zwischenraum, in
dem sich das Schreiben von Joan Didion entfaltet. Seven places of the mind, heißt der Abschnitt, in dem dieser Essay
in Slouching towards Bethlehem
erschien. Er ist eine Mischung zwischen den Reportagen des ersten Teils und den
autobiographischen Einzelheiten des zweiten: Orte der Phantasie, die wir
gemeinsam bewohnen. Mythen nannten wir diese Orte früher einmal – wie die
besseren Songs, Bilder, Filme und Texte der Popkultur verbindet Joan Didion in
ihren Texten das Mythische mit dem Persönlichen. Das ist ihr Geheimnis: in
ihren persönlichsten Texten erzählt sie nicht von sich, sondern von einer
Fremden, die sie kaum kennt. Wie wir uns alle nicht kennen. Weshalb wir darauf
warten in Büchern erkannt zu werden. Solche Bücher können wir nicht lesen, wie
der liberale Literaturkritiker Lionel Trilling einmal schrieb, sie lesen uns.
Joan Didion: Slouching Towards Bethelem, Farrar, Straus, Girouy, € 11,50
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