Montag, 25. Juni 2012

DIE ZEITUNG UNSERES LEBENS. Joan Didions Essays

Ein Beitrag von Morel


Leere Mitte. Öffentlich-Erwachsen-Werden, growing up in public – es sind vor allem die introvertierten Kinder, die paradoxerweise damit ihren Lebensunterhalt verdienen werden. Denn nirgends ist man sicherer vor den Zumutungen des Sozialen als in der Öffentlichkeit, auf der Bühne und im Rampenlicht. Ein schüchternes, lesesüchtiges Kind war sie in ihren eigenen, zurückblickenden Augen: Joan Didion, Romanautorin, Essayistin, Journalistin, Drehbuchautorin, aber vor allem eine Erinnerungskünstlerin. Denn das Zurückblicken erhob sie zur Kunst. Selbst als sie die gerade entstehende Hippiebewegung in San Francisco journalistisch erforschte, verzeichnete sie all das, was im Moment des Schreibens, der nun auch schon Jahrzehnte zurückliegt, verloren ging. Später einmal bemerkte sie über diese Zeit: „Ich ging nach San Francisco, weil ich schon seit einigen Monaten nichts arbeiten konnte, überzeugt davon, Schreiben sei irrelevant und die mir zugängliche Welt längst untergegangen. Wenn ich noch einmal irgendetwas arbeiten wollte, musste ich lernen mit der Unordnung zu Rande zu kommen.“ Während eine ganze Generation freie Liebe und die Revolte gegen die Autorität feierte, lernte Joan Didion zaghaft, mit der Unordnung zu leben. Sie zitiert in ihrer ersten Sammlung von Essays, Slouching towards Bethlehem, aus dem gleichnamigen Gedicht von W.B. Yeats Zeilen, die ihrer Verwirrung Ausdruck verliehen: „Things fall apart; the centre cannot hold“. Wer sich im deutschen Geisteswesen auskennt, denkt jetzt unweigerlich an Hans Sedlmeyer und den Verlust der Mitte, eine 1948 erschienene kuturkonservative KampfSchrift, in der die moderne Kunst als Ausdruck des gestörten Verhältnisses zu Gott verstanden wird. Die beste Essayistin einer vermeintlich revolutionären Zeit fürchtet sich vor dem Chaos der Veränderung: eine ehrgeizige junge Frau, dank eines Stipendiums bei Vogue gelandet, registrierte Wählerin der Republikaner, Fan des Rechtsaußen Barry Goldwater. Wie angeblich auch Bob Dylan, der mit der Enthüllung seiner Verehrung für den spleenigen Republikaner und Ufo-Gläubigen, der Bürgerrechte für Minderheiten als unerträgliche Einschränkung der Freiheitsrechte empfand, allerdings noch bis zur Veröffentlichung seiner an mehr als einer Stelle etwas zweifelhaften Memoiren wartete. Während Joan Didion die gesamten 80er und 90er Jahre Romane und Essays gegen die Politik Reagans und Bushs schrieb. Irgendetwas passt hier nicht zusammen. Things fall apart. Aber das gehört zum Öffentlich-Erwachsen-Werden dazu: das Leben lebt sich nur noch bruchstückhaft. Wer die Bühne des Lebens betritt, schüchtern und unsicher, wird die Rollen spielen, die ihm angeboten werden. Die Mitte ist eben immer leer und muss provisorisch gefüllt werden.
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Zeitung und Roman. Fangen wir noch einmal an. In Deutschland sind Zeitung und Roman lange feindliche Geschwister gewesen, die Zeitung eine flatterhafte, oberflächliche Dame von Welt, der Roman ein schwermütiger, gedankenvoller Grübler. Die Romane wünschten wir uns geistreich und tief, dafür verachteten wir das oberflächliche Geplauder und die billige Propaganda der Presse. Der New Journalism hat diese Dichotomie in den 60er Jahren in den USA und in den 80er Jahren in Deutschland unter dem Sigel der Popliteratur (in Spex, Tempo und anderen Zetschriften) aufzuweichen versucht. Als sie bei Vogue arbeitete, schrieb Joan Didion ihren ersten Roman, Run, River, ein fürchterlich nostalgisches Buch, wie sie später in Where I was from urteilte. Der Roman diente ihr dazu, die ganze Geschichte Amerikas und das Ende der Ideale der Pioniere in einem Ehepaar zu spiegeln. Der Roman als Geschichtsspeicher, der das Zerfallene wenigsten imaginär zusammenhält. Aber es sind ihre journalistischen und autobiographischen Arbeiten, für die sie ihre Leserinnen (und die wenigen Leser) lieben. Diese Arbeiten entstanden nicht, weil sie etwas zu sagen hatte oder die Welt verändern wollte. Sie entstanden, weil Didion die Welt nicht verstand. Weil sie sprach- und ratlos war. Die zu einfache Verfallsgeschichte des Romans war eben nur die halbe Wahrheit. Die Verwirrung ist der Ausgangspunkt ihrer Essays, nicht das Einverstanden- oder Dagegensein. Für ein solches Denken, dass sich unfruchtbaren Gegensätzen entzieht, sind die schnell vergessenen Zeitungen und Magazine ideale Orte etwas Bleibendes zu publizieren. Denn der Zwang die Gegenwart zu verstehen wirkt als gesunder Stress auf das Betriebssystem Journalismus. Wer nicht weiß, worum es geht, fängt an die Welt in ihren Einzelheiten wahrzunehmen. Schlecht wird es nur, wenn diese Einzelheiten in vorgefertigte Schablonen gesteckt werden sollen. We tell us stories in order to live, der Titel einer Essay-Sammlung von Joan Didion muss genau gelesen werden, um nicht als Apologie der üblichen Manipulationen verstanden zu werden. Es geht nicht darum Geschichten zu erfinden, sondern das Leben in Geschichten zu verwandeln, die wir uns gegenseitig erzählen können. Dabei ist nicht die große Erzählung gefragt, der Bildungsroman mit Anfang und Ende, sondern viele kleine Geschichten. Diese Geschichten aber, so Didion, sind lebensnotwendig. Weil wir sonst nicht arbeiten können, nicht aufstehen möchten und uns, wie in einem Alptraum, die Worte fehlen, wenn wir plötzlich auf der Bühne stehen im Kostüm unserer Wahl. Wir kommen nicht daran vorbei, uns Geschichten zu erzählen (es gibt da auch kein einsames Autoren-Ich, nur eines, dem manchmal die Worte fehlen, das immer wieder ansetzt zu erzählen). Das sind Didions Essays: vorläufige Geschichten über etwas, was nie zu Ende geht und das wir deshalb letztendlich auch nicht verstehen können. Die Zeitung, nicht der Roman unseres Lebens.
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A real book reads us. Lionel Trilling
Ich und Figur. In den letzten Jahren ihrer Zeit in New York hätte Joan Didion dem heimlichen Goldwater-Anhänger Robert Zimmermann (der sich natürlich öffentlich und voller Sarkasmus in seinen Protestsongs über die Kommunistenangst des Republikaners mokierte) an jeder Straßenecke begegnen können. Sie schreibt über diese Zeit in New York, in einem ihrer schönsten Essays, Goodbye to all that, der seinen Titel der Autobiographie Robert Graves erborgt. Dylans Halloween-Konzert 1964 in der New Yorker Philharmonic Hall erwähnt sie nicht. Berühmt wurde es durch die scherzhafte Bemerkung des Folksängers, zu Halloween trage er seine Bob-Dylan-Maske. Solche Witze können einen verfolgen. Wer damit anfängt Masken zu tragen, wird sie so schnell nicht wieder los. Das in seiner kalkulierten Coolness emphatische Prosastück, mit dem Joan Didion ihre Essaysammlung beschließt, geht diesem Spiel zwischen Gesicht und Maske, Ich und Figur in den Verzweigungen ihrer Sätze nach. Schon in den ersten Zeilen dieses Essays stellt sie sich als Romanheldin vor, eines Romans allerdings, dessen Anfang ihr klar und deutlich vor Augen stehe, während das Ende – ihr Entschluss New York zu verlassen – nur noch undeutlich erinnert wird. Ihr Stil vermeidet die eindeutige Aussage, es werden selten Fakten konstatiert, sondern in Nebensätzen und Aneinanderreihungen alternative Welten aufgefächert. Regnete es tatsächlich an jenen  Abend als ich meine Handtasche im Drugstore liegen ließ? Aus diesem Fächer unsicherer Wirklichkeiten entfaltet sich die Bewegung dieses Essays, der mit dem optimistischen Einzug der Heldin auf eine erste Bühne beginnt und dem Zusammenbruch der Heldin nach Happy-End und überstürzter Flucht nach Kalifornien endet. Diesen Zusammenbruch, die Depression, schildert sie wie von außen. Während zuvor die Lichter, Gerüche und Momente der Großstadt als Teil des Ichs gefeiert werden. Was hier Ich ist, was Figur, wird keiner noch so gründlichen Lektüre sich je erschließen. Es ist einfach der Zwischenraum, in dem sich das Schreiben von Joan Didion entfaltet. Seven places of the mind, heißt der Abschnitt, in dem dieser Essay in Slouching towards Bethlehem erschien. Er ist eine Mischung zwischen den Reportagen des ersten Teils und den autobiographischen Einzelheiten des zweiten: Orte der Phantasie, die wir gemeinsam bewohnen. Mythen nannten wir diese Orte früher einmal – wie die besseren Songs, Bilder, Filme und Texte der Popkultur verbindet Joan Didion in ihren Texten das Mythische mit dem Persönlichen. Das ist ihr Geheimnis: in ihren persönlichsten Texten erzählt sie nicht von sich, sondern von einer Fremden, die sie kaum kennt. Wie wir uns alle nicht kennen. Weshalb wir darauf warten in Büchern erkannt zu werden. Solche Bücher können wir nicht lesen, wie der liberale Literaturkritiker Lionel Trilling einmal schrieb, sie lesen uns.

Joan Didion: Slouching Towards Bethelem, Farrar, Straus, Girouy, € 11,50

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