Samstag, 2. Juni 2012

MOONRISE KINGDOM - der neue Film von Wes Anderson. Ein Hoch auf die Kunst der Verdrängung


Wes Anderson ist ein Märchenerzähler. Im Märchen kriegen sich die Liebenden am Ende und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. In Märchen geht es meist um dysfunktionale Familien, um manisch-depressive Könige, schizoide (Stief-)Mütter, psychotische Geschwister und vernachlässigte Außenseiter. Im Märchen wirken fast alle Figuren psychisch gestört, obwohl oder weil sie nicht psychologisch erklärt werden. Niemand erzählt, warum es so gekommen ist, wie es gekommen ist und niemandes Gefühle werden akribisch untersucht. Wenn einer traurig ist, ist er traurig. Wenn eine sich verliebt, verliebt sie sich. Wenn jemand sich fremd fühlt, schnürt er sein Bündel. Wenn eine nicht passt, geht sie auf die Suche nach einem anderen Ort. Im Märchen wird nichts erklärt, sondern gehandelt. Märchen sind Geschichten von und für Menschen, die nicht daran glauben, dass ihr Unglück sich bessern ließe, wenn sie die Vergangenheit besser verstehen. Märchen sind für Leute, die gegen alle Wahrscheinlichkeit das Glück suchen. Im Märchen setzt man sich in Bewegung, damit sich was ändert, denn „überall ist es besser als hier“. Märchen sind widerständige Bilder gegen das herrschende Verlangen nach Aufdeckung und Bearbeitung der Vorgänge in der Seele. Märchen werden von Verdrängungskünstlern erzählt (Was, wie ich glaube, alle wahren Künstler sind). Märchenerzähler sind hyperaktiv und notorisch optimistisch. Ich mag Märchen und ich mag die Filme von Wes Anderson.

aus: Wes Anderson: Moonrise Kingdom

Wes Anderson erzählt in Handlungen und Bildern. Es wird sehr wenig und sehr schlicht gesprochen. Aber jedes Bild und jede Bewegung sind genau komponiert und choreographiert. Sein neuer Film MOONRISE KINGDOM beginnt mit einer langen Kamerafahrt durch das sorgfältig aus Guckkastenzimmern gebaute ehemalige Leuchtturmwärterhaus der Familie Bishop, die auf der fiktiven Insel New Penzance vor Neuengland lebt. Es ist ein Sixties-Puppenhäuschen, aufgeräumte Zimmer, Einbauschränke, Rohrsessel, Regale mit sorgsam aufeinandergetürmten Gesellschaftsspielen und vielen Büchern. Ein etwas schäbiger und liebloser Wohlstand wird hier gezeigt, viel Raum und nur einige wenige Farbtupfer: ein blauer tragbarer Schallplattenspieler,  eine rotkarierte Tasche und ein gelber Koffer, sowie der lila Lidschatten auf den Augenlidern der 12jährigen Suzy (Kara Hayward). Ihre drei jüngeren Brüder versammeln sich um den Schallplattenspieler und hören Benjamin Brittens Klassik für Kinder. Mutter (Frances McDormand) und Vater (Bill Murray) gehen, voneinander getrennt durch eine Wand, ihren Beschäftigungen nach. Suzy streift mit ihrem Fernrohr durch das Haus, sucht von den Fenstern aus den Horizont ab: die See, die Wiesen, die Felder. Schließlich verlässt Suzy das Haus, das jetzt, von außen, gar nicht mehr trist wirkt, sondern grell rot in der Düne steht. Die Mutter ruft mit einem Megaphon alle zum Essen.

Jetzt ist die Zuschauerin im Bilde: Achtlosigkeit und Distanz ohne Bosheit, Eltern, die einander nicht mehr sehen, und die  Außenseiterin im Geschwisterkreis; bunt, weiblich, reizvoll hebt sich Suzy sofort von ihren Brüdern ab. Die Mutter hält sich die Familie - im Wortsinn  - durchs Megaphon vom Leibe. Der Vater streift unruhig, aber ziellos herum. Hinter der Postkartenidylle des roten Leuchturmwärterhauses versteckt sich kein Grauen, sondern Tristesse und Beziehungslosigkeit. Doch ein Aufbruch steht bevor: Suzy bewegt sich durch das Haus, sie hält Ausschau nach draußen, was sie mitnehmen wird, sticht schon ins Auge.

Am anderen Ende der Insel ist ein Pfadfinderlager aufgeschlagen. Scout Master Ward (Edward Norton) inspiziert, Pfeife rauchend, die Truppen. Alles ist wohl organisiert, die Halstücher gebügelt, die Zelte in Reih und Glied, der Frühstücksspeck brutzelt in der Pfanne und doch stimmt nichts: das selbst gebaute Baumhaus schwankt eine gefühlte Meile hoch oben im wahrsten Sinne des Wortes halsbrecherisch im Wind, der Motorradscout jagt knochenbrecherisch über die Felder, alle Jungs sind bis unter die Zähne bewaffnet, aber Scout Master Ward achtet darauf, ob die Knöpfe poliert und die Hemden ordentlich eingesteckt sind. Die Zuschauerin ist im Bilde: Ein freundlicher, aber überforderter Erzieher hält sich an starren, paramilitärischen Regeln fest, während er stets das Wesentliche übersieht, wenn seine Jungen sich abenteuerlustig und todesmutig in Lebensgefahr bringen.

Eine winzige, einfenstrige Polizeistation steht einsam auf einem Felsen am Meer, vor der Tür der Kombi des Captain Sharp von der Island Police (Bruce Willis). Es ist still hier, nur die Wellen schlagen an die Felsen. Unwahrscheinlich, so scheint es, dass je etwas passiert, was die Aufmerksamkeit, die Intelligenz, die Handlungsfähigkeit eines Polizeioffiziers erfordert. Die Zuschauerin ist im Bilde: Ein einsamer Polizist, ohne Kollegen, Familie und weitgehend ohne Aufgaben, fristet sein Leben  ausgesetzt auf einer Insel, die nur von einem Postschiff oder vom Flugzeug aus erreicht wird.

Ein sonderbar gekleideter kleiner Mann in rotem Dufflecoat und mit grüner Mütze gibt den Fremdenführer. Am Strand stehend, erklärt er die Topographie, Flora und Fauna der Insel. Es ist 1965, klärt er die Zuschauerin auf, und in drei Tagen, exakt, wird ein Jahrhundertsturm erwartet. Der Wind pfeift über die Dünen.

Die Schauplätze sind vorgeführt. Wes Anderson erzählt keine Märchen. Denn Märchen spielen im Niemandsland. Wes Anderson aber siedelt seine Erzählung in einem genau definierten Gebiet und in einer bestimmten Zeit an. Bis in die kleinsten Details der Kostüme und Interieurs werden nostalgisch die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts beschworen und obwohl New Penzance eine fiktive Insel ist, erkennt die Zuschauerin die Landschaft, die Architektur und die typische Möblierung der Neuenglandstaaten. Wo das Märchen universell sein will, stellt Anderson seine Protagonisten in einen beschränkten zeitlichen und räumlichen Bezug. Es ist nicht eng in diesem Rahmen, aber er ist auch nicht zu sprengen. Gerade daraus ergibt sich die entscheidende, die beglückende und befreiende Wirkung dieser Erzählung: Seine Figuren agieren in einem beschränkten und beschränkenden Umfeld, aber dieses Umfeld definiert sie nicht. Wer sie sind und was sie wollen, wohin sie gehören und was sie tun, ergibt sich gerade nicht aus der soziologischen und historischen Situation. Sie behaupten sich gegen die Übermacht der Konventionen, die ihnen äußerlich bleiben; jedoch nicht durch ihre Innerlichkeit, sondern durch ihre gestaltende Eingriffe in die sichtbare Erscheinung (also z.B. durch skurrile Aufmachung) und vor allem durch unerwartete Handlungsweisen.

Der Held von Andersons Film ist der 12jährige Sam, ein Waisenjungen, der Suzy Bishop vor einem Jahr während einer Arche-Noah-Aufführung gesehen hat. Dabei ist mit ihnen beiden etwas passiert, das alles ändert. Seither schreiben sich Sam, den keiner leiden kann, und Suzy, die keine Freunde hat, Briefe. Der Plan reift, gemeinsam auszureißen. Sam kündigt bei den Pfadfindern, Suzy packt den gelben Koffer voller Bücher und klemmt den Plattenspieler unter den Arm. Sie treffen sich, genau wie verabredet, auf einer Wiese. Die Ausreißer finden ihr MOONRISE KINGDOM, eine kleine Bucht, probieren die ersten Zungenküsse und schlafen aneinander gekuschelt in Sams Zelt ein. Doch der Suchtrupp ist schon unterwegs. Sie werden gefasst, auseinandergerissen und eingesperrt. Sam wartet bei Captain Sharp auf seine Deportation durch das Jugendamt (Tilda Swinton).

Andersons Filmsprache wirkt auf viele Zuschauer:innen offenbar kindlich und naiv. Das liegt, wie manche meinen, daran, dass seinen Charakteren die psychologische Tiefe fehlt. Sie drücken sich über Fetische aus, die sie mit sich herumschleppen oder tragen, durch eigentümliche Kleidungsstücke oder sonderbare Sprechweisen. Tatsächlich kann man dies als Weigerung begreifen, sich und seine Gefühle zu erklären. Stattdessen wollen diese Figuren über ihre Oberfläche und ihre Bewegung begriffen werden. Sie stellen sich nicht als Produkt historischer, gesellschaftlicher oder ökonomischer Zwänge vor, sondern behaupten – glücklich oder unglücklich – ihre Individualität gerade gegen die Idee, man könne erklären, warum eine sei, wie sie eben sei. Dass Suzy ein schwieriges und aggressives Kind ist, dass Sam auf seine Kameraden eigenartig und abstoßend wirkt, dass Captain Sharp einsam und verschlossen ist, Suzys Mutter enttäuscht und Suzys Vater verletzt, ist nicht „den Verhältnissen“ geschuldet, sondern teil dessen, was und wer sie eben sind. Sowitzig diese Verweigerung einer Erklärung, die stoischen Gesten und die lakonischen Aussagen oft sind, so ernst ist dieser Film auch: Im Hintergrund zieht dunkel am Horizont eine Welt auf, die Andersartigkeit, Traurigkeit, unbedingtes Begehren, Überforderung, Ungenügen notfalls sogar mit Elektroschocks, jedenfalls aber mit Offenbarungszwang und Gefühlsnormierung weg therapieren will.

In der zweiten Hälfte des Films erst beginnt das wirkliche Märchen: Die Jungpfadfinder, die Sam gemobbt haben, entschließen sich zu seiner Rettung, Scout Master Ward wird im Sturm zum Helden, das Ehepaar Bishop entdeckt sich zögernd als Eltern wieder, das Jugendamt wird ausgetrickst und es kommt sogar noch zu einer komischen Eheschließung, bevor der Blitz einschlägt und die Kirchturmspitze abreißt. Mehr will ich hier nicht verraten. Alles wird gut, obwohl keiner den anderen oder sich selber besser versteht und niemand „mal miteinander geredet hat.“ Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

7 Kommentare:

  1. zauberhafter film, und ganz zauberhafte empfehlung.....
    ja und auch ich liebe märchen, vielleicht genau aus dem grund, sie liefern keine erklärungen für die buntheit der welt, für die einzigartigkeit ihrer akteure....aber märchen bieten identifikationsmuster für die überwindung von angst, schmerz, elend und sorge. sie sind optimistisch und hoffnungsvoll und werden sicher auch desshalb von den kindern geliebt....

    wir erfahren nicht ob der böse wolf eine beschissene wolfskindheit hatte, ob er unter seinen geschwistern gelitten hat , ob seine mutter ihn vernachlässigt oder missshandelt hat.....nein das erfahren wir nicht, es spielt keine rolle. wichtig bleibt allein das ende; der wolf ist tot, der wolf ist tot.....

    grausam aber wahr; das leben kann so einfach sein, jedenfalls im märchen und darum lieben wir sie, glaube ich...

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    1. Ja, wunderbar. Die Erinnerung an die Bilder und die Musik des Films (über die Musik habe ich gar nichts geschrieben, großartig: BEnjamin Britten, ich habe richtig Sehnsucht nach mehr bekommen) treibt mir den ganzen Tag immer wieder ein kleines Lächeln aufs Gesicht. Und ich bin froh, dass ich den Film im Kino und auf Englisch sehen konnte. Diese Bilder sind für die große Leinwand gemacht, nicht für den kleinen Bildschirm.

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  2. Schöne Rezension!
    Ich habe den Film ebenfalls vor zwei Tagen gesehen - im Kino und auf Englisch - und war von Anfang bis Ende inkl. Abspann beglückt. Am meisten berührt hat mich die Ernsthaftigkeit, und genau darum schien es mir auch zu gehen: Zwei Kinder, die von ihrem Umfeld nicht ernst genommen werden, weder in ihren Bedürfnissen, noch in ihrer Person, und die in einander genau dieses Fehlende finden.
    Eine Schlüsselszene ist für mich die Auflistung des Inventars durch Sam. Kommentarlos wird jedes noch so skurril anmutende Gepäckstück als notwendig hingenommen, keins wird belächelt oder hinterfragt. Es ist ein Kennenlernen der besonderen Art, über das Du schreibst: "Andersons Filmsprache wirkt auf viele Zuschauer:innen offenbar kindlich und naiv. Das liegt, wie manche meinen, daran, dass seinen Charakteren die psychologische Tiefe fehlt. Sie drücken sich über Fetische aus, die sie mit sich herumschleppen oder tragen, durch eigentümliche Kleidungsstücke oder sonderbare Sprechweisen. Tatsächlich kann man dies als Weigerung begreifen, sich und seine Gefühle durch Worte zu erklären. Stattdessen wollen diese Figuren über ihre Oberfläche und ihre Bewegung begriffen werden."
    Es ist ein begriffen Werden, das sich zufrieden gibt mit dem gesehen und akzeptiert Werden. "Begriffen" wird das, was offensichtlich ist, und bereits an diesem Punkt setzt eine ganz selbstverständliche Wertschätzung ein, die kein beantwortetes Wodurch und Wozu als Grundlage braucht.
    Und mit welcher Ernsthaftigkeit Sam und Suzy dann jeweils genau das zu ihrem "Moonrise Kingdom" beitragen, das ihnen in ihrem jeweiligen Umfeld verwehrt wurde, von der Befriedigung existentieller Bedürfnisse, wie denen nach Nahrung und Schutz, über Gesellschaft und Nähe bis hin zu geistiger Anregung und Entfaltungsmöglichkeit, ohne in verkitschte Romantik zu verfallen.
    Ich finde, dass solche Märchen mehr als jeder Appell geeignet sind, Menschlichkeit zu fördern.
    Und wie konsequent, dass Anderson im Abspann nicht nur das Orchester nennt, sondern alle Instrumente und die Namen aller Instrumentalisten einzeln benennt bzw. auflistet.
    Ich glaube, ich muss diesen Film bald noch einmal sehen.

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    1. Liebe Iris, ich auch! (Aber wahrscheinlich ist, dass ist das wieder mal nicht schaffe. Er macht froh, der Film, so intensiv, dass es selten ist. Morel und ich blieben auch bis ganz zum Schluss sitzen, fast alleine im Kino, genau deshalb, um den ganzen Abspann zu sehen, jede Musikerin, jeden Musiker, jede Näherin, jeden Visagisten. Herzliche Grüße M.

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  3. Tolle Kritik und ein toller Film! Ich kann mich deiner Empfehlung nur anschließen (bzw. tue das auch ausführlicher hier: http://www.leselink.de/filme/coming-of-age-filme/moonrise-kingdom.html). Vor allem mochte ich die Einheit von Bild, Ton und Dialog, die Musik findet sich in der Geschichte wieder und macht den Film noch mehr zu etwas Besonderem. Jetzt schon mein Lieblingsfilm 2012 :).

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