Als ich mich wieder einmal mit dem
Fortgang meines Melusine-Sequels „Ich küsse mein Leben in dich. Die Marten-Ehen“ plagte, mit dem endgültig notwendig gewordenen Schnitt
ins Fleisch der Puppe, die jener Frau gleicht, mit der Heilmann den Sohn
zeugte, den er nicht haben durfte, da also begegnete mir die ewige
Schlangen-Frau, das Mutter-Tier, die Melusine (die eben keine Undine ist, wie
immer wieder betont werden muss), an unerwarteter Stelle:
„And
why did he fasten his affection, finally, on the widow of a Lancastrian knight?
Was it because, as some people thought, her cold blonde beauty raised his
pulse? It was not exactly that, it was that she claimed descent from the
serpant woman, Melusine, whom you may see in old parchments, winding her coils
about the Tree of Knowledge and presiding over the union of the moon and the
sun. Melusine faked her life as an ordinary princess, a mortal, but one day
her husband saw her naked and glimpsed her serpant´s tale. As she slid from his
grip she predicted that her children would found a dynasty that would reign for
ever: power with no limit, guaranteed by the devil. She slid away, says the
cardinal, and no one saw her again.“
Dies ist ein Zitat aus dem Historien-Roman „Wolf Hall“ von Hilary Mantel, der mich zur Zeit in seinen Sog zieht. Die Geschehnisse am Hof Heinrich VIII., des
Blaubart-Königs, dessen Gier und Leidenschaft, Sentimentalität und Grausamkeit
seine Frauen und viele seiner Vertrauten das Leben kostete,
faszinieren seit je die Menschen. 2010 sah ich im Londoner Tower eine
Ausstellung der Rüstungen des groß gewachsenen Königs. Unfassbar, wie sein
Umfang über die Jahre zunahm: Einen eisernen Arsch gigantischen Ausmaßes musste der Schmied für die letzte fertigen, lächerlich und grässlich zugleich; man fühlt mit diesem monströs gewordenen Mann, der einmal als schön gegolten hatte, wenn man das sieht, viel mehr aber noch mit den
anderen, die solch eine hemmungslose Natur zu (er)tragen hatten. Um das Leben
Henry VIII. und seiner Frauen ranken sich immer wieder Biographien, Romane,
Filme.
Hilary Mantels 2009 erschienenem Roman „Wolf Hall“, für den sie den Booker Prize erhielt, sei, wurde von den Kritikern geschwärmt, ein „Meisterwerk“. Zugleich löste er in England eine Debatte über die Zukunft des Historien-Romans aus. In Großbritannien konnte diese Diskussion, wie ich glaube, wesentlich offener geführt werden als es in Deutschland möglich wäre, wo das sich für „gebildet“ haltende Publikum und sein Feuilleton immer noch , wenn auch mit kleinen Zugeständnissen (Krimi des Monats, Comic-Seite), an der Dichotomie von "ernster Hochliteratur“ und der von manchen tatsächlich so genannten „Schundliteratur“ festhalten. (So erklären sie sich und anderen auch regelmäßig den mangelnden Erfolg angeblicher oder tatsächlicher literarischer "Meisterwerke" beim verachteten Publikum und frönen ihrem Kulturpessimismus.) Dagegen scheuen sich angesehene britische Historiker_innen nicht, unterhaltsame und verständliche Biographien zu schreiben. Wissenschaftlicher Slang und Anmerkungsapparat halten sich in Grenzen und es muss nicht auf jeder zweiten Seite Foucault (oder sonst wer) erwähnt werden, um die eigene Bedeutsamkeit nachzuweisen. (Ein schönes Beispiel dafür ist die 2004 erschienene Biographie Stephen Greenblatts „Will in der Welt“ über Shakespeare.) So sind auch die Berührungsängste britischer Schriftsteller mit dem Massenpublikum und mit den von ihm geliebten Genres viel geringer. Ein Dramatiker wie Tom Stoppard schreibt Skripts für das Fernsehen. Kriminalromane und Science Fiction sind nicht per se "niedere" Genres.
Hilary Mantels 2009 erschienenem Roman „Wolf Hall“, für den sie den Booker Prize erhielt, sei, wurde von den Kritikern geschwärmt, ein „Meisterwerk“. Zugleich löste er in England eine Debatte über die Zukunft des Historien-Romans aus. In Großbritannien konnte diese Diskussion, wie ich glaube, wesentlich offener geführt werden als es in Deutschland möglich wäre, wo das sich für „gebildet“ haltende Publikum und sein Feuilleton immer noch , wenn auch mit kleinen Zugeständnissen (Krimi des Monats, Comic-Seite), an der Dichotomie von "ernster Hochliteratur“ und der von manchen tatsächlich so genannten „Schundliteratur“ festhalten. (So erklären sie sich und anderen auch regelmäßig den mangelnden Erfolg angeblicher oder tatsächlicher literarischer "Meisterwerke" beim verachteten Publikum und frönen ihrem Kulturpessimismus.) Dagegen scheuen sich angesehene britische Historiker_innen nicht, unterhaltsame und verständliche Biographien zu schreiben. Wissenschaftlicher Slang und Anmerkungsapparat halten sich in Grenzen und es muss nicht auf jeder zweiten Seite Foucault (oder sonst wer) erwähnt werden, um die eigene Bedeutsamkeit nachzuweisen. (Ein schönes Beispiel dafür ist die 2004 erschienene Biographie Stephen Greenblatts „Will in der Welt“ über Shakespeare.) So sind auch die Berührungsängste britischer Schriftsteller mit dem Massenpublikum und mit den von ihm geliebten Genres viel geringer. Ein Dramatiker wie Tom Stoppard schreibt Skripts für das Fernsehen. Kriminalromane und Science Fiction sind nicht per se "niedere" Genres.
Selbstverständlich
unterscheidet sich Hilary Mantels Schreibweise von derjenigen, wie sie die Massenproduktion der "historischen Romane" prägt. Dennoch ist "Wolf Hall" ein Roman, der auch für die treuen Leser_innen dieses Genres lesbar ist. Er bietet das, was von einem Historien-Roman zu erwarten ist: satte
Beschreibungen, pralle Figuren, derbe Sprache. Er bietet nicht das, was
den Leser_innen dieser Romane oft als einzige Lesemotivation unterstellt wird:
Identifikationsflächen. Ich glaube allerdings, dass Historien-Romane mindestens
ebenso sehr aus dem Wunsch gelesen werden, sich nicht zu identifizieren wie sich zu identifizieren. Anziehend an
der Welt der Vergangenheit ist keineswegs bloß die Möglichkeit, sich in eine fremde Welt zu versetzen,
sondern auch, die Fremdheit und das Fremdbleiben einer solchen Welt schaudernd oder fasziniert zu
erfahren. Es ist für mich die wichtigste, die entscheidende Erfahrung, die sich durch Literatur
machen lässt: Zu begreifen, dass meine Welt nicht die Welt ist und das meine
Zugänge zur Welt begrenzt sind durch meine Geschichte, meine sozialen Umstände, mein Geschlecht
usw.: Die Literatur eben nicht als Fortsetzung der kindlichen Allmachtsphantasien, sondern als deren Ent-Täuschung. Ich erlebe lesend, dass ich nicht alles
sein kann (auch nicht in meiner Phantasie) und nicht alles verstehen (auch nicht mit meiner Vernunftanstrengung):
Ein wohliges Gefühl der Ohnmacht kann daraus entstehen (was den Massenprodukten
vorgeworfen wird), aber es kann auch begleitet sein von der Erkenntnis, dass
ich eben aus dieser Ohnmacht und dieser Nichtverfügung über die „Wahrheit“ in
den Grenzen meiner Möglichkeiten handeln muss. Darum geht es
auch in Hilary Mantels „Wolf Hall“: Geschichte wird gemacht und erlitten; beides
gilt für alle und für viele gilt beides zu gleicher Zeit.
Im
Zentrum von Mantels Roman steht Thomas Cromwell, der undurchsichtige Berater
Henry VIII, der Mann, der mit Kardinal Wolsey aufstieg, aber nicht mit ihm unterging,
der die Scheidung von Katharina von Aragon betrieb und die Köpfung von Anne
Boleyn veranlasste, um schließlich selbst auf dem Tower Hill zu sterben,
nachdem sein König den Geruch der Anna von Kleve nicht ertragen konnte, die er
ihm als nächste Braut ins Bett legen wollte. Mantel erzählt die Geschichte
Thomas Cromwells nicht chronologisch, sondern kaleidoskopartig. Wir sehen den
jungen Tom, wie er von seinem Vater beinahe zu Tode geprügelt wird. Wie sein
Schwager ihn versorgt und los werden will. Wie Wolsey ihn unterweist in den Künsten
und Ränken des höfischen Lebens. Wie er als junger Herumtreiber, Händler,
Söldner den Kontinent durchstreift. Wie er sich für eine Wette in Rom von einer
giftigen Schlange beißen lässt. Wie seine Frau ihn an einem Morgen
verabschiedet und am Abend tot vom „englischen Fieber“ in seinem Bett liegt. Es
ist immer Gegenwart in diesem Roman. Er geht. Er lacht. Sie sucht die
Nadeln. Ein Kind weint. Es wird viel gesprochen. Einer sagt
das und ein anderer etwas anderes. Viele Thomasse: Morus, Wolsey, Cromwell. Man
weiß nicht, wer die Wahrheit spricht. Vielleicht wissen sie es selber nicht. Im Zentrum,
aber meist unsichtbar bleibend: der König. Geliebt. Gefürchtet. Gehasst. Verachtet.
Was geht in ihm vor? Was will er? Wer wird steigen? Wer wird fallen? Es gibt
Gründe. Aber nichts folgt einer durchschaubaren Ursache-Wirkungsabfolge. Die einzig mögliche Haltung ist: Sei auf der Hut. In einer von Misstrauen dominierten Welt folgen aus guten Absichten böse Taten.
Ja,
das ist ein außergewöhnlicher, ein faszinierender, ein unterhaltsamer und ein
„moderner“ Historien-Roman. Er und die Autorin haben es nicht nötig, dass dieses Lob durch Abgrenzung und Verachtung vom Genre und seinem Massenpublikums ergänzt wird (wie es im deutschsprachigen Raum in vielen - positiven - Rezensionen geschah). Beim Erscheinen 2009 wurde der Roman von der Kritik geradezu gehypt - und deshalb lese ich ihn erst jetzt. Das ist ein Glück, denn soeben ist
Hilary Mantels Fortsetzung erschienen: „Bring up the bodies“, auf die ich nun
nicht warten muss!
Gedächtnistheater. Hillary Mantels Roman Wolf Hall, den ich jetzt endlich am Strand lesen konnte, ist nicht nur ein Page Turner, sondern moderne Literatur, die immer auch die Bedingungen ihres Entstehens reflektiert. Während er seinen König zu einem europäischen Krisentreffen nach Calais begleitet, trifft Cromwell zwei zwielichtige Alchemisten in einer Hafenkneipe. Es geht um das Gedächtnistheater von Guilio Camillo, ein ein hölzernes Gebäude, in dem das gesamte Wissen der Welt durch mnemotechnische Bilder gespeichert werden sollte wie in einer Enzyklopädie. Der französische König förderte dieses Projekt, sorgte aber dafür, dass es niemals das Licht der Welt erblicken würde (bis es dann in Form von Computer-Benutzeroberflächen ein halbes Jahrtausend später wieder ans Licht kam). Cromwell konnte Camillo nicht für den Hof des englischen König gewinnen. Die Mnemotechnik, zu der die englische Historikerin Frances A. Yates eine große, von Mantel sicherlich in ihr Werk eingeflochten Studie verfasst hat (Gedächtnis und Erinnern), ist aber einer der zahlreichen Fäden, die Wolf Hall zusammenhalten (andere sind beispielsweise Stoffe und Farben, Bilder und Gerüche, es ist eine Welt der Sinne, die Mantel entwirft). Cromwell selber ist ein Meister der Mnemotechnik, der Kunst sich mit Hilfe von Bildern zu erinnern. Es heißt von ihm an einer Stelle, dass er das Neue Testament auswendig kenne. Das macht ihn in zu einem gefährlichen Gegner in einer Welt, in der mehr mit Worten als mit Fäusten oder dem Schwert gefochten wird. Er ist kein Gelehrter, sondern ein Jurist, der keine Entscheidung ohne Absicherung in der Schrift trifft. Aber die Kunst der Erinnerung hat in Mantels Roman nicht nur dramaturgische Bedeutung. An wenigen Stellen unterbricht sie die Erzählung, so auch an der Stelle, als Cromwell weinend das Gebetsbuch seiner an der Pest gestorbenen Frau liest. Genau in diesem Moment erinnert Mantel an Ciceros Bericht von der Entstehung der Mnemotechnik. Ein griechischer Poet, Simonides, trug bei einem Festmahl Poesie vor. Dabei lobte er auch Castor und Pollux, die berühmten römischen Zwillinge, sehr zum Unwillen des Gastgebers, der ihm empfahl sein Honorar mit den beiden zu teilen. In diesem Moment wird der Poet vor die Tür gebeten, zwei Männer erwarteten ihn. Diese aber sind nicht aufzufinden. Als Simonides zurückgehen will, stürzt das Haus ein und bis auf einen, sterben alle Teilnehmer des Gastmahls. Die Leiche waren fürchterlich entstellt, aber Simonides hatte sich den Sitzplan eingeprägt und war in der Lage die Toten zu identifizieren. Er wusste genau, wo alle saßen, als das Dach einstürzte. Die Arbeit der Erinnerung und damit die des historischen Romans, den Mantel schreibt, ist an die Toten zu erinnern in dem Moment, in dem ihre Welt untergeht. Wolf Hall ist daher weder die möglichst unbeteiligte Schilderung der Vergangenheit noch die kritische Abrechnung mit ihr. Immer wieder redet Cromwell mit den Toten, seiner Familie, den Opfern religiöser Verfolgung, aber auch den Opfern seiner eigenen Verstrickung in die Politik. Gleichzeitig kämpft er um sein eigenes Bild in einem zukünftigen Geschichtstheater. Er weiß um seinen Ruf als Sohn eines gewalttätigen Schmieds und Bierbrauers. Die Leute halten ihn nicht nur für einen Gedächtniskünstler, sondern auch für einen möglichen Mörder. Aber wenn er auch die Tagespolitik zu manipulieren vermag, sein eigenes Bild entgleitet ihm. Davon erzählt Hillary Mantel in ihrem Roman, der nicht von Fakten und Ereignissen erzählt, sondern davon, wie diese zu Geschichte wurden. Ein wirklich, moderner historischer Roman.
AntwortenLöschenUnd es wird noch besser: Lies Bring up the bodies
LöschenIch muss auf den dritten Band noch warten. :-)