„Nimm
die Kinder, bitte! Geht weiter.“, sage ich. Mir rinnen Tränen über die Wangen und sie hinterlassen hässliche braune Wimperntuschespuren unter meinen Augen. Dicht bin
ich an die Vitrine herangetreten, damit es niemand sieht. Wenn sich aber einer
seitlich hinter mich stellte, spiegelte sich für ihn mein Gesicht im Glas
vor den Kriegsgefangenenausweisen. Meine Mundwinkel zucken beim vergeblichen
Versuch kein Geräusch zu machen. Aber B. hat mich dennoch gehört. Er stellt sich hinter mich und sieht, was er nicht sehen soll.
Ich will jetzt keine Frage danach, was los ist. Ich will, dass er weiter geht,
dass er die Kinder nimmt, bevor auch sie etwas bemerken. B. weiß nicht, was er
tun soll. Der aggressive Ton verunsichert ihn, er legt mir die Hand auf den Arm. Doch ich schüttele ihn ab:
„Geh.“ Er ruft die Kinder; sie gehen hinüber in den nächsten Raum und ich bin allein
vor dieser Vitrine im Haus der Geschichte in Bonn, in der ein grüner US-amerikanischer
Kriegsgefangenenausweis ausgestellt ist: Prisoner of War, Camp Ashby, CA. Auf Großvaters grünen Ausweis, erinnere
ich, war quer das Wort „Carpenter“ gestempelt.
Neben
dem Ausweis liegt in der Vitrine eine dieser roten Postkarten, genau wie die,
die ich in den Händen gehalten
habe: Die vorgedruckte Meldung an die Verwandten, dass einer in
Kriegsgefangenschaft geraten ist und in ein Lager gebracht worden über den
Ozean und einen ganzen Kontinent nach Kalifornien. Ich habe Großvater niemals über die Jahre am
pazifischen Ozean sprechen hören. In seiner unsicheren Schrift hatte er auf die
Rückseite der roten Karte über das Vorgedruckte geschrieben: Dein Albert Euer Vater. Das hatten sie ihm offenbar
durchgehen lassen. Auf dem Ausstellungsexemplar in der Vitrine sind nur die vorgesehenen Felder ausgefüllt. Ich
versuche, die Linsen wieder scharf zu stellen: Ein Hermann, geboren 1907, hat
diese hier gen Osten und über den Atlantik geschickt. Albert, mein Großvater, wurde 1909
geboren, als jüngster Sohn seines Vaters. Wie ihre beiden Vorgängerinnen starb meine Urgroßmutter im Kindbett. An
Mutters Stelle trat für ihn seine älteste Schwester Grete. Neunzehn Jahre alt war
sie bei seiner Geburt. Im Kindesalter hatte er eine schwere Hirnhautentzündung
und konnte fast ein Jahr lang die Schule nicht besuchen. Die Grete hat sich um
ihn immer noch ein bisschen mehr gesorgt als um ihre anderen Geschwister. Albert, mein Großvater, war in der Schule nach der langen Auszeit
durch die Krankheit hinter seinen Kameraden zurück geblieben. Mit 14 Jahren
ging er bei einem Großonkel in die Schreinerlehre. Meine Knie zittern. Ich
suche nach einer Sitzgelegenheit, finde keine. Aber der Weg zur Toilette ist
ausgeschildert. Dort kann ich mich einschließen und ausheulen.
Es
hat mir nie jemand erzählt, wie Großvater Emma kennenlernte. Vielleicht hat es
auch keiner gewusst von denen, die überlebt haben. Aber alle, die sie noch
zusammen gesehen hatten, sagten, es sei eine große Liebe gewesen. Emma war anders als die anderen Frauen aus dem Dorf. Sie kaufte sich in der Stadt Zeitschriften und schneiderte sich die neueste
Mode nach. Um den Hals legte sie sich einen Fuchspelz. Ihre schmalen, eleganten Kostüme
bedeckten gerade die Knie. Doch ich kenne kein Foto von ihr aus jenen Jahren, als sie
noch ledig und kinderlos war. Sie war vier Jahre älter als Albert. Mit der geraden,
langen Nase, der hohen Stirn und dem länglichen Gesicht entsprach sie einem Schönheitsideal,
wie Henny Porten es geprägt hatte. Bei den Kundinnen waren
ihre Kreationen beliebt; sie selbst, hat man mir erzählt, eher nicht. Die
Leute fanden sie hochnäsig mit ihrem Pelz und in den figurbetonten Kostümen. Auch
als sie schon zwei kleine Mädchen hatte, arbeitete sie von zu Hause aus als
Schneiderin weiter. Das war nötig, denn Großvater hatte für sie ein Haus
gebaut, das abbezahlt werden musste und die Erlöse aus seiner
Schreinerwerkstatt langten dafür nicht. Ihr scheint das nichts ausgemacht zu
haben. Auf den Fotos berühren sich die beiden nicht, aber sie stehen ganz eng
bei einander und ihr Stolz reicht hin, um seine Scheu, sein sanftes Lächeln um ihre Strenge auszugleichen. Auf dem
letzten Foto, das die vier zusammen zeigt, steht meine Mutter, damals vier Jahre alt, neben ihrer Schwester,
beide tragen sie weiße, spitzenverzierte Kleidchen, die Emma genäht hat. Albert
trägt die Wehrmachtsuniform. Die beiden Erwachsenen sehen bedrückt aus, während
die Mädchen in die Kamera lachen. Sie werden nie mehr zu viert vor einer Kamera
stehen. Aber es wird nicht er sein, der fehlen wird.
Es
ist nicht Trauer, begreife ich, als ich auf dem Klo sitze und die Tür von innen verriegele, weswegen ich weine. Ich kralle die Hände um den Rand des Deckels, auf den ich mich
gesetzt habe. Ich möchte zuschlagen, irgendetwas entzwei hauen. Es ist Wut,
pure Wut. Ich habe Emma nicht gekannt. 1944 ist sie bei einem Bombenangriff der
US-Armee auf die Kreisstadt verschüttet worden. Ich weine nicht um sie. Ich
weine wegen ihrer Schwester Minna, die die blaue Kladde verschwinden ließ, den grünen
Ausweis, die rote Postkarte und die Briefe von Margret und Röschen an ihren
Vater. Nur die zwei oder drei Fotos von Emma und Albert mit Margret und Röschen gibt es noch.
Sie kleben im Fotoalbum meiner Mutter. Aber alles, was Großvater Jahrzehnte lang in der blauen Kladde versteckt hatte, ist weg. Die blaue Kladde
war in Großvaters Sekretär in der Werkstadt eingeschlossen, wo die Leitz-Ordner
mit den Rechnungen an seine Kunden und alle anderen wichtigen Dokumente, sein
Pass, seine Gewerbebescheinigung, seine Handwerkerrolle lagen. Ganz unten fand ich die Kladde, ein mit
blauem Stoff eingeschlagenes Buch, dessen linierte Seiten zur Hälfte in seiner
schwer leserlichen, spinnenhaft dünnen Handschrift beschrieben waren. Manchmal,
selten, stand der Rollsekretär offen. Ich habe nie gesehen, dass Großvater die Kladde herausnahm, wenn
ich bei ihm in der Werkstatt war. Ich
fand sie erst, nachdem er gestorben war. Ich durfte mir immer den Schlüssel vom Bord
in der Küche nehmen und niemand hat mich gefragt, wozu ich in die Werkstatt
gehe, weil alle verstanden haben, dass ich mich an Großvater erinnern will, der
für mich eine kleine Hobelbank gebaut hatte, an der Wand neben seiner großen
und ein Bord geschnitzt, an dem meine kleinen Werkzeuge hingen und der die Minna
überredet hatte, mir eine blaue Schürze zu nähen, gerade wie seine große
Schreinerschürze, die er nur zum Essen am Mittag und spät am Abend auszog.
„Sie
sin an Kopp un en Arsch.“, haben sie über uns gesagt. Aber er hat mir nie von
Emma erzählt. Kein Wort. Meine Mutter hat immer behauptet, dass sie sich an kaum was erinnern kann aus der Zeit, bevor
Emma weg war. So spricht sie darüber. Sie sagt nicht: „Als meine Mutter
gestorben ist...“ oder „Nach dem Bombenangriff...“ Sie sagt: „Meine Mutter war dann weg...“ Mein Großvater, erzählen die
Leute, ist ein gebrochener Mann gewesen, als er aus Amerika zurückkam. Sie
haben die Emma nicht gemocht, aber
keiner hat je einen Zweifel daran gelassen, wie sehr Albert sie geliebt hat und
sie ihn auch. Wäre es anders gewesen, wäre sie ja auch nicht gestorben. Jeder
hat es ihr gesagt, lassen sich die Leute aus und schüttelten noch dreißig Jahre später den Kopf, dass die
Kreisstadt bombardiert wird und eine Mutter mit zwei kleinen Kindern nicht
dahin fahren darf. Deshalb hat sie es heimlich getan, denn sie hat es nicht
mehr ausgehalten. Albert war als vermisst gemeldet worden im Sommer 1944 und
sie musste nach Monaten ohne ein Wort wissen, ob es etwas Neues über ihn gab. Die Mädchen hat sie mit
zum Bahnhof genommen und ihnen eingeschärft, dass sie im Häuschen am Gleis
warten sollten bis sie zurück käme mit dem Abendzug. „Lasst euch nicht vor den
Leuten blicken“, habe sie gesagt, erzählt die Margret. Emma ist niemals mehr zurückgekommen. Margret und Röschen
haben auf den Abendzug gewartet, der nicht kam. Die ganze Nacht haben sie gewartet. Am Morgen hat sie ein Großonkel
gefunden und nach Hause gebracht. Der hat auch die Emma an ihrem Ehering
identifiziert in der Kreisstadt, wo die Leichen oder das, was von ihnen übrig
war, in der Turnhalle aufgebahrt wurden. Meine Mutter hat nie über diese Nacht
gesprochen. Sie sagt, sie hat das vergessen. Sie war fünf Jahre alt. Die
Margret war zehn.
Albert
begann im November 1944 in die Kladde zu schreiben. Da war Emma schon zwei
Monate tot. Das wusste er nicht. Er schreibt: „Geliebte Emma, wie es wohl den Kindern und dir gehen mag. Ich denke
jeden Tag an euch. Wenn ich in unserem Lager vor die Türe trete, sehe ich das
Meer. Das ist der pazifische Ozean. Es ist unendlich weit. Kannst du dir das
vorstellen? Ich bin am Atlantik gewesen und nun am Pazifik. Du glaubst nicht,
wie schön das Meer ist. Es reißt einem das Herz auf, wie weit der Blick drüber
hingeht. Wie ich es in der
Bretagne zum ersten Mal gesehen habe, dieses unendliche Blau mit den weißen
Kronen drauf, da dachte ich an dich. Wie anders es gewesen wäre, mit dir dort
zu stehen. Du hättest das mit mir gefühlt, denn du willst auch immer mehr als das,
was da ist. Aber ich habe den Hass in den Augen der Franzosen gesehen, an denen
wir vorüber gefahren sind. Ich hatte nur eine Chance, das Meer zu sehen, nämlich
als Söldner von einem Verbrechers andere Länder zu überfallen. Für Leute wie dich und mich ist es nicht
bestimmt, ans Meer zu fahren, obwohl es doch Gott geschaffen hat für alle
Menschen. Das hat mich bitter gemacht und mein Herz verschlossen, das grade noch so weit geworden war: Der Gedanke, dass du niemals das Meer sehen wirst, liebe
Emma. Ich sehne mich so sehr nach dir. Ich wünschte, du könntest herkommen mit
Margret und Röschen.“
Fast ein Jahr lang hat er jeden
Tag Eintragungen in diese Kladde gemacht. Vokabellisten deutsch –
englisch: the door – die Tür, the cabinet
– der Schrank, Kirschholz – cherry wood, Kiefer – pine. An anderen Tagen füllt
er die Seiten mit seinen Gewissensbissen: „Du
sollst nicht schwören, sagt der Herr. So hat uns der Pfarrer gesagt. Ich habe
mitgebaut an dem Podest für den Parteitag in der Kreisstadt. Als ich gefragt
wurde, haben alle gesagt, das kannst du nicht ablehnen. Du hast meinen Kopf in
die Hände genommen und mich beschworen: Wir brauchen das Geld. Wenn ich es
nicht gemacht hätte, hätte es ein anderer gemacht. Das ist wahr, aber es ist
auch wahr, dass mein Vetter Richard sich lieber ein Beil in den Fuß gehauen hat, als für
das Pack zu marschieren. Du hast zwei kleine Kinder, Albert, hast du gesagt.
Aber wir beide, Emma, haben gewusst, dass es nicht recht ist und deswegen haben
wir wach nebeneinander gelegen und geschwiegen. Am Ende habe ich den Schwur auf
den Führer geleistet , als sie mich zum Soldat gemacht haben. Du sollst nicht
schwören, sagt der Herr, und dafür werde ich bezahlen müssen. Denn ich habe
geschworen und den Schwur gebrochen. Bei der ersten Gelegenheit bin ich getürmt
und zu den Amerikanern übergelaufen. So ist das nämlich, Emma. Ich habe nicht kämpfen
wollen für diese Verbrecher und meinen Schwur gebrochen. Was ist schlimmer,
einen falschen Schwur leisten oder ihn brechen? Die Amerikaner sind gut zu mir
gewesen. Sie lassen mich arbeiten und es ist warm und schön hier. Außer das ich
nicht raus kann und dir nicht schreiben darf, Emma. Wie sehr ich euch vermisse!
Geliebte, dein Haar, wenn du es löst in der Nacht.“
Manche
Seiten sind halb leer. Da hat er versucht zu dichten, der Mann, der mein Großvater
wurde und den ich nie ein Buch lesen sah, außer der Bibel und auch aus der nur
die Psalmen, die er gern hörte, wenn ich sie ihm vorlas. Schlicht und zuweilen
ungelenk sind seine Reime.
„Ich seh dich über die Felder laufen
Den Kirchberg herab in meine Arme
Die Welt möchte ich für dich kaufen
Ach, daß sich Gott meiner erbarme,
Daß ich dich bald wieder an mich drücke
Und sich füllt in meinem Herzen die Lücke.“
Ich
habe geweint, jedes Mal, wenn ich in der Kladde gelesen habe. Diesen Mann habe
ich gekannt, der das geschrieben hat. Das ist der Mann gewesen, mit dem ich in
der Werkstatt gewesen bin, der Mann, der mit mir im Wald auf die Rehe gelauscht
hat und mir vom Duft der Maiglöckchen geschwärmt hat. Das war der Mann, auf
dessen Schoß ich gesessen bin und der mir Märchen erzählt hat. Wenn dieser Mann
die blaue Schürze abgebunden und an den Nagel gehängt hat und hinüber gegangen
ist von der Werkstatt über den Hof ins Haus, dann ist er zu einem anderen Mann
geworden, einem dicken, verschlossenen Mann, dem kaum mehr zu entlocken war als
„Ja.Ja. Nein.Nein.“ Das ist der Mann gewesen, den die Minna gehabt hat. Der
Albert, mit dem die Minna verheiratet war, war ein Mann, der das Fett vom
Braten gesäbelt hat, um sich eine Wampe wie einen Panzer anzufressen.
Meine
Mutter erzählt oft, wie schlimm es für sie gewesen sei, nach der Rückkehr ihres
Vaters plötzlich Mutter zu der Frau sagen zu müssen, die immer die „Gote“, die
Tante gewesen war. „Die ganze Trepp´ bin ich e nunner gerannt, damit ich se net
rufe muss.“ Es muss grimmig gewesen sein in der ersten Zeit in dieser neuen
Hausgemeinschaft aus einem Mann, dessen Herz gebrochen war und einer Frau, die wusste, dass er sie nicht wollte, und zwei Mädchen, die ihre Tante Mutter nennen sollten. Albert
kam erst 1949 zurück aus Kalifornien. Für meine Mutter brach die Welt noch
einmal zusammen, erzählt sie, als der so lang herbei geträumte Vater endlich im
Hof stand, ein hagerer Glatzkopf in Lumpen. Sie erkannte in ihm nicht den
Vater, den sie ersehnt hatte. Auch der Schwester war sie entfremdet, denn die
war während dieser Jahre in Felbach beim Emmas Familie gewesen. Der Albert
bestand drauf, dass die Mädchen bei ihm aufwachsen sollten. Die beiden Familien
setzten sich zusammen und fanden eine vernünftige Losung. Die unverheiratete
Schwester der Emma sollte ins Haus ziehen, um die Mädchen zu versorgen. Und
damit alles „eine Ordnung“ hatte, heiratete der Witwer sie.
Von
dem Mann, den ich gekannt habe und der Emma geliebt hat,
gibt es keine Spuren mehr, außer jenen zwei oder drei Fotos im Fotoalbum meiner
Mutter, die gestellt sind und auf denen sie einander nicht berühren. Deshalb
sind mir die Tränen gekommen. Ich vermisse den Mann, der nie das Haus betrat,
in das Emma 1944 nicht zurückgekehrt war. In der Werkstatt habe ich ihn
kennengelernt und in seinem Sekretär hatte er mir etwas hinterlassen. Das bilde
ich mir ein. Ich muss mir alles einbilden. Denn die Kladde, die abbricht an
jenem Tag, an dem Albert die Todesanzeige von Emma erhält mitsamt den Briefen,
die die Mädchen endlich an ihn schicken dürfen im Herbst 1945, ist
verschwunden. Eines Tages, als ich sie wieder aus dem Rollsekretär nehmen
wollte, war sie weg. Die Kladde und all die Briefe und der
Kriegsgefangenenausweis und die Postkarte aus dem Lager. Jedes Wort, das ich
hier geschrieben habe, ist erfunden. Es hat diesen Mann nie gegeben. Als ich die Minna nach der Kladde gefragt habe, hat sie
behauptet, sie habe nie eine gesehen. Meiner Mutter habe ich versucht zu erzählen,
was Albert geschrieben hatte. „Das glaube ich nicht.“, hat sie gesagt.“ Das
bildest du dir ein. Mein Vater hat nie mehr als ein paar Sätze geschrieben und
auch die nur geschäftlich.“ Alle haben immer so getan, als hätte ich mir das
Buch in der Werkstatt nur ausgedacht, um mich interessant zu machen oder weil
ich den Großvater so sehr vermisse.
Ich
war neun Jahre alt, als Albert gestorben ist. Ich war elf, als die Kladde
verschwand. In all den Jahren habe ich selbst manchmal gedacht, dass ich mir
nur eingebildet habe, in Großvaters Sekretär habe ganz unten dieses blaue Buch
gesteckt. Und dann lag er vor mir in der Vitrine in Bonn, der Ausweis, den ich
wiedererkannte: Prisoner of War, Camp Ashby, CA. Großvater war in Kalifornien,
von wo er eine vorgedruckte rote Karte nach Hause schickte an Emma, Margret und
Röschen. So war es doch. Ich sehe die Minna in ihrem geblümten Kittel in der Tür zur
Werkstatt stehen und mich zum Essen rufen. Schnell stecke ich die Kladde ins
unterste Fach des Sekretärs zurück. Die Minna zieht die Schultern immer
zusammen; sie muss sich anscheinend dauernd zusammenreißen. Nur einmal habe ich
erlebt, dass sie sich gehen lässt. „Das ist mein Mann“, hat sie geschrieen,
ganz zum Schluss, als der Albert gestorben ist. Aber er hat nicht mehr nach ihr
gefragt. Von jedem Enkelkind hat er einzeln Abschied genommen, von seinen Töchtern
auch. Nur nach ihr hat er nicht verlangt.
Ich
pudere mir das Gesicht vor dem Spiegel in der Museumstoilette und ziehe den
Lidstrich sorgfältig nach. Minna ist jetzt seit zwei Jahren im Altersheim und
seit einem Jahr nicht mehr ansprechbar. Ihre Wohnung habe ich zusammen mit
meiner Mutter ausgeräumt, Ich habe alle ihre Schränke durchsucht. Da war keine
Kladde. Vor der Tür der Toilette wartet B. mit den Kindern. Sein Blick sucht
den meinen. Ich nicke ihm zu. Am Abend nach der Rückkehr aus Bonn rufe ich
meine Mutter an und lenke das Gespräch auf Großvaters Cousin Richard. Sein
linker Fuß ist verkrüppelt, solange ich ihn kenne. Ich frage meine Mutter, wie
das passiert sei. „Ein Unfall“, sagt sie, „das weißt du doch, beim Holzhacken.“
Das haben alle immer gesagt. „Wann war das?“ „Weiß ich nicht mehr genau. Da war
ich selbst doch noch ein Kind. Das muss gewesen sein, bevor meine Mutter weg
war.“ Wochen später bei einer Geburtstagsfeier setze ich mich neben Richard. „Hast
du Schmerzen in dem Fuß?“, frage ich. „Immer noch. Immer wieder.“ „Das war
unglaublich mutig von dir.“ Er schaut mich überrascht an. „Was?“ „Dir in den Fuß
zu hacken, damit du nicht für die Nazis kämpfen musst.“ Richard packt mich am
Arm. „Das hat nur der Albert gewusst, wie es wirklich war. Hat er dir das erzählt?“
Da kommen mir noch mal die Tränen und ich muss wieder aufs Klo flüchten, bevor
jemand was merkt.
(Aus der Serie:
AUTO. Logik.Lüge.Libido (im Blog)
Ob es in jeder Familie diese Vermissten gibt, die nicht zurückkehren? Die Totgeschwiegenen? Die Verstecke? Den Sprung über die Generationen? Diese Mischung aus Trauer und Wut?
AntwortenLöschenEs kommt mir so vertraut vor, wenn ich das lese, obwohl alles ganz anders war.
LG
Lena G.
@Lena G. Das weiß ich nicht, ob es in jeder Familie so ist. Über Traumata dieser kriegsundführerkinderkriegsundführerkinder (Heike Schmitz) sind jedenfalls wenig gesprochen worden, glaube ich. Ich erzähle hier auch nicht eins zu eins die Geschichte meiner Familie, sondern versuche (unterschiedlich konsequent und mit unterschiedlicher Distanz) das Autobiographische literarisch zu bearbeiten.
AntwortenLöschenWährend in Heike Schmitz´ Buch (s.Link) im Zentrum steht, welche Last Schweigen und Sprechen, Bruch und Kontinuität auch unserer (d.h. der zwischen 1960 und 1970 Geborenen) Generation auferlegt haben, beginne ich, je älter ich werde, auch zu verstehen, wie weit der Weg war, den viele unserer Eltern gingen, geboren unter der Nazi-Herrschaft, aufgezogen unter dem Schweigen über die Verbrechen und das Leid, gedrückt und verdruckst, schafften viele es dennoch, zueinander und ihren eigenen Kindern ein anderes Verhältnis aufzubauen. Ich kann es auch viel schlichter sagen: Ich bin dankbar und auch voller Bewunderung dafür, wie meine Eltern ihr Leben gestalteten und wie es ihnen gelang mehr Spielräume für uns, ihre Kinder, zu eröffnen. Dass Verdrängung dafür bisweilen nötig war, so nötig wie das tägliche Brot, auch das halte ich inzwischen für wahr.