So
stellen Sie sich Istanbul nicht vor. Nicht dass ich wüsste, was Sie denken: Ob
Sie sich eine pulsierende Weltstadt vorstellen, jung, überbordend,
leidenschaftlich oder eine Stadt der Begegnung zwischen Orient und Okzident,
einer tausendjährigen Geschichte der Überschneidungen und Überschreibungen oder
eine Stadt der Gegensätze von Armut und Reichtum, Religiosität und Säkularität,
eine Stadt der Melancholie, der Ergebenheit an Hüzün oder eine Stadt der wilden
Exzesse und durchtanzten Nächte. Das weiß ich nicht, wie Sie sich Istanbul
vorstellen, selbstverständlich, ob so oder so, aber so bestimmt, so, wie
Perihan Magden die Stadt in „Ali und Ramazan“ beschreibt, so bestimmt nicht.
„Ali
und Ramazan“ von Perihan Magden wurde 2010 in der Türkei zum Buch des Jahres
gewählt; 2011 erschien es in deutscher Sprache bei Suhrkamp, übersetzt von
Johannes Neuner. Dem Roman „Ali und Ramazan“
ist ein Zitat von Raoul Vaneigen vorangestellt: „Leute, die über Revolution reden, oder über Klassenkampf, ohne sich
dabei explizit auf das alltägliche Leben zu beziehen, die nicht verstehen, was
subversiv an der Liebe ist und was positiv ist an der Zurückweisung von Beschränkngen,
solche Leute haben eine Leiche in ihrem Mund.“ „Ali und Ramazan“ erzählt
eine tragische Liebesgeschichte, eine Geschichte unbedingten Verlangens und
unbedingter Ergebung, die Geschichte einer Liebe, die von Anfang an zum Scheitern
verurteilt ist und aus der es für die beiden Liebenden kein Entrinnen gibt, die
ganz und gar aufeinander eingehen und sich dennoch – oder gerade deswegen – zutiefst
verletzen und in die Verzweiflung, den Rausch, die Sucht, die Gewalt treiben. „Ali
und Ramazan“ ist „Romeo und Julia“ auf Türkisch und „von unten“ und „nicht-heterosexuell“.
„Ali und Ramazan“ erzählt, was die Liebe kann und woran sie zerbricht, eine
Liebe, die genauso schwer und tief und glücklich-unglücklich sein kann, wie die
zwischen den Königskindern, die zueinander nicht kommen können, obwohl ihre
Protagonisten kein Prinz und keine Prinzessin sind, keine „Fallhöhe“ haben und
nicht am Standesdünkel oder am Ehrbegriff ihrer Familien oder
gesellschaftlichen Schicht scheitern, sondern an Armut und Ausgrenzung.
Perihan
Magden erzählt diese Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit beruht, im Präsens
und sie beginnt mit dem Ende: „Am 18. Dezember 1992 endet die Geschichte von
Ali und Ramazan. Im wirklichen Leben. Auf Seite 3. Ali und Ramazan, das sind
Seite-3-Jungs, deren kurzes Leben mit blutigen Bildern und in vierzig bis fünzig
Zeilen abgehandelt wird.“ Damit ist das Vorhaben dieses Romans klar: Die Erzählung
will den beiden Liebenden zurückgeben, was ihnen die ausgrenzende Gesellschaft
der Millionenstadt verweigert bis in ihren Tod hinein, der ihr nur Sensation
ist. Die Schlagzeilen der Zeitungen mit den großen Buchstaben, die das Wort „schräg“ benutzen, stellen für die Leser_innen nur noch einmal wohlig schaudernd die Distanz zu jener Welt her, in
der Ali und Ramazan einander liebten. Das erste Kapitel des Romans endet mit dem Satz: „Wenn
für tote Liebespaare die Zeit nicht vergeht, dann sind sie noch immer im Jahr
1992.“ Darum geht es: Ali und Ramazan in der Gegenwart zu halten, im
Bewusstsein einer Gesellschaft, die ihre Existenz leugnete oder allenfalls als
Schauermärchen wahrnehmen wollte.
Ali
und Ramazan sind Waisenknaben, die einander in einem Waisenhaus in Istabul zum
ersten Mal begegnen. Ramazan, der als Säugling ausgesetzt wurde, wird zu diesem
Zeitpunkt schon seit Jahren vom Direktor des Waisenhauses sexuell missbraucht.
Der schöne Junge macht das Beste daraus und sichert sich wenigstens die
Vorteile, die ihm die „Liebe“ dieses schäbigen, selbstmitleidigen Menschen
einbringt. Auch Ali hat eine unvorstellbare Last zu tragen: Seine Mutter
erschlug vor seinen Augen den gewalttätigen Vater und brachte sich anschließend
mit Pflanzenschutzmittel qualvoll um. Ali ist groß, still, gutmütig und von
Alpträumen geplagt. Ramazan ist wild, großmäulig, schön und leidenschaftlich.
In einer einfachen Sprache, die doch immer wieder neue, eindringliche Bilder für
die Gefühle ihrer Protagonisten findet, erzählt Perihan Magden vom Leben der
beiden im Waisenhaus und davon,
wie sich die Liebe zwischen diesen verletzten, geschädigten Kindern entwickelt: „Ramazan
möchte Ali fressen, möchte seine genüsslichen Laute hinunterschlucken. Sie in
sich einschließen. Sie dort behalten und nie wieder herauslassen. Ali und Ramazan
vereinigen sich. Sowohl für Ali als auch für Ramazan ist es die erste
Vereinigung.“ Das stimmt, das wird wahr, obwohl Ramazan schon so lange dem
Herrn Direktor zur Verfügung stehen muss. Weil Liebe etwas anderes ist als Sex,
auch körperliche Liebe etwas anderes als „ein Fick“. „Immer, wenn er an diese
Nacht zurückdenkt wie an einen schönen Traum, wird Ramazan so denken. Dass man
sich mit dem, was man liebt, vereinigt. Die anderen werden einfach pflichtgemäß
gefickt.“
Die
Erzählerin ist allwissend; immer wieder streut sie diese vorausschauenden Rückblicke
in die Erzählung ein. Was Ramazan und Ali fühlen werden, wenn es zu spät ist,
wenn sie einander schon so tief hinabgezogen haben in einen Sumpf aus
Prostitution und Drogen. Denn darum geht es auch in diesem Roman: Um die
Ausweglosigkeit einer Liebe zwischen zwei Menschen, die an nichts Halt haben
als aneinander und die doch beide schon längst, schon lange bevor sie erwachsen waren, so sehr verletzt wurden, dass sie einander nicht retten können, wie sehr
sie sich auch lieben. Nach dem 18. Lebensjahr setzt der türkische Staat die
Waisenjungen mit einem Grundschulabschluss auf die Straße. Sie leben als
Obdachlose in den Gassen von Istanbul. Ramazan tut, was er kann: Er verkauft
seinen Körper. Dabei entwickelt er einen „Hurenstolz“, der darin besteht, sich immer
nur als aktiver Part zu verkaufen: Er fickt, aber er lässt sich nicht ficken.
Nur mit Ali „vereinigt“ er sich. Dennoch fällt es Ali schwer, diese
Unterscheidung zu akzeptieren, zu verstehen, was für Ramazan „Job“ ist und was
Liebe. Ali beginnt zu schnüffeln. Sie ziehen sich in einen Sog von Vorwürfen, Ängsten,
Eifersucht und Gewalt. Es kann nicht gut gehen. Aber sie können nicht
voneinander lassen. Weil sie sich lieben. Weil sie niemanden sonst haben. Weil alles,
was sie hoffen können, sich nur auf „Ali und Ramazan“ bezieht. „Wir sind keine
Schwuchteln oder so was. Wir sind ein Liebespaar. Okay? Wir sind einfach
ineinander verliebt.“, sagt Ramazan. Ramazan will immer raus, raus aus
Istanbul, raus aus der Prostitution, raus aus der Armut. Ali will immer heim,
in die Ruhe, die Gewaltlosigkeit, die Geborgenheit, das Vertrauen. Ramazan kämpft
und Ali duldet.
Es
ist eine zutiefst traurige, verstörende Geschichte, die Perihan Magden so
scheinbar schlicht erzählt. Eine Geschichte, die man lesen muss, weil sie schön
ist wie die Liebe und so rücksichtlos gegen den Hass und die Verwahrlosung einer
Gesellschaft, in der kein Platz sein soll für so eine Liebe und so ein Paar und seine
Geschichte. Den schafft Perihan Magden für „Ali und Ramazan“.
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